Gesundheitsvorsorge im Alter – nicht ohne Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF)

Wer im Alter eine neue Hüfte bekommt, dem wird selbstverständlich eine Anschlussrehabilitation finanziert. Wer dagegen sein Sehvermögen verliert, der muss seine Reha in Form eines LPF-Trainings oft aus der eigenen Tasche bezahlen. Das kann nicht sein, findet DBSV-Präsidiumsmitglied Rudi Ullrich und fordert, dass LPF zu einer Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenkassen werden muss.

LPF-Teilnehmerin im Umgang mit dem Backofen
Mit dicken Handschuhen und den richtigen Handgriffen begegnet die LPF-Teilnehmerin dem heißen Backofen

Gesunde Ernährung, viel Bewegung, regelmäßiges und ausreichendes Trinken sind typische Ratschläge von Gesundheitsexperten, wenn es darum geht, auch im Alter fit zu bleiben und Krankheiten wie Diabetes zu vermeiden. Viel frisches Obst und Gemüse steigern die Abwehrkräfte und sind auch für die Verdauung hilfreich. Bei Erkältung oder einer Magenverstimmung lieber mal einen heißen Tee aufbrühen anstatt gleich zu einem Medikament zu greifen. Bei Durchblutungsstörungen sind kalte und heiße Wechselfußbäder enorm hilfreich, lautet ein weiterer nützlicher Tipp. Und natürlich wird immer wieder darauf verwiesen, wie wichtig es für Menschen im Seniorenalter ist, rege zu bleiben und sich eine Aufgabe zu suchen. Zum Erhalt der Gesundheit oder dem, was davon übrig geblieben ist, ist es eine Selbstverständlichkeit, vom Arzt verordnete Medikamente richtig dosiert und exakt nach den zeitlichen Vorgaben einzunehmen. Immer wieder wird von Experten und Krankenkassen auf die Verantwortung des Patienten verwiesen, beim Genesungsprozess oder der Linderung von Krankheitsfolgen aktiv mitzuarbeiten. Selbstverständlich wird bei alledem vorausgesetzt, dass jeder Patient, der geistig fit ist, diese Empfehlungen im Alltag umsetzen kann, wenn er nur will.

Aber wie sieht es in der Realität aus, wenn ein älterer Mensch wenig oder gar nichts mehr sieht? Wie schält oder schneidet er das frische Obst, um an die notwendigen Vitamine zu kommen? Wie gießt er ein Glas Wasser ein und wie brüht er sich den Tee auf, ohne sich selbst zu verbrühen? Wie notiert er die Informationen bezüglich der richtigen Medikation? Wie misst er Blutzucker, Fieber oder Blutdruck? Wie kommt er mit Füllstandsanzeiger, Kurzzeitmesser, Tablettenteiler oder Tropfenzähler zurecht? Wie findet er die Notfalltelefonnummern?

Dies sind nur einige Beispiele rund um das Thema Gesundheitsvorsorge und Erhalt der Gesundheit, die zeigen, dass ein blinder oder stark sehbehinderter Mensch eine spezielle Reha benötigt. Es ist kaum nachvollziehbar, dass die gesetzlichen Krankenkassen das Training Lebenspraktischer Fähigkeiten für blinde oder sehbehinderte Senioren bisher nicht bezahlen müssen. Einige Kassen haben sich zwar in einer Vereinbarung mit dem DBSV bereit erklärt, das Training unter bestimmten Bedingungen als freiwillige Leistung zu übernehmen, allerdings nicht die AOK. Außerdem sind die Krankenkassen oft nicht bereit, die vollen Stundensätze von qualifizierten Rehalehrern zu zahlen. Wer also eine massive Sehverschlechterung erleidet und nicht mehr im Arbeitsleben steht, für den sieht es im wahrsten Sinne des Wortes düster aus. Auch der Verweis auf Sozialhilfe ist da wenig hilfreich, denn selbst wenn das Einkommen des Antragstellers unter der Sozialhilfegrenze liegt, darf er nur sehr geringe Ersparnisse haben, sonst hat er keinen Anspruch auf Unterstützung.

DBSV-Präsidiumsmitglied Rudi Ullrich
Sieht beim LPF-Training die Krankenkassen in der Pflicht: DBSV-Präsidiumsmitglied Rudi Ullrich

Also keine Chance? Ich denke doch! Der Schlüssel könnte in den „Rahmenempfehlungen mobile geriatrische Rehabilitation“ vom 1. Mai 2007 liegen. Hier haben die maßgeblichen Verbände der gesetzlichen Krankenkassen formuliert, unter welchen Bedingungen ein Anspruch auf geriatrische, also auf ältere Menschen zugeschnittene, Rehabilitation besteht. In der Präambel heißt es: „Die Gesellschaft in Deutschland unterliegt nachhaltigen demographischen und sozialen Wandlungsprozessen. Die Zahl der älteren Menschen nimmt deutlich zu. Alter bedeutet zwar nicht zwangsläufig Krankheit, mit den Lebensjahren steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit zu erkranken und so auch die Gefahr von dauernder Behinderung und der Abhängigkeit von fremder Hilfe. Aus diesem Grund erhält die geriatrische Rehabilitation einen wesentlich höheren Stellenwert als früher. Sie trägt zum Erhalt und der Verbesserung der Teilhabe sowie zur Vermeidung oder Minderung von Pflegebedürftigkeit bei.“

Und weiter steht dort: „Rehabilitationsleistungen müssen so ausgerichtet sein, dass sie die rehabilitationsbedürftigen alten Menschen tatsächlich erreichen, von ihnen akzeptiert werden und die Kontextfaktoren mit einbeziehen. Die mobile Rehabilitation kommt dabei insbesondere für eine Gruppe rehabilitationsbedürftiger geriatrischer Patienten in Betracht, deren Rehabilitationsprognose nur in der gewohnten oder ständigen Wohnumgebung positiv einzuschätzen ist […] Vor diesem Hintergrund haben die Spitzenverbände der Krankenkassen […] unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft Mobile Rehabilitation (BAG MoRe) die Rahmenempfehlungen zur mobilen geriatrischen Rehabilitation erarbeitet, um somit die Rahmenbedingungen und die Mindeststandards für diese Leistungsform bundesweit einheitlich festzulegen.“

Anspruch auf geriatrische Rehabilitation haben in der Regel Patienten über 70 Jahre mit mindestens zwei gesundheitlichen Einschränkungen. Ausdrücklich aufgeführt werden Patienten mit „starker Seheinschränkung“. Weitere Bedingungen für die Kostenübernahme sind, dass eine „positive Rehabilitationsprognose“ vorliegt und „das angegebene Rehabilitationsziel realistisch und alltagsrelevant ist“. Das trifft doch hundertprozentig auf unseren Personenkreis und LPF als notwendige Reha-Maßnahme zu, dachte ich. Und als ich in den Empfehlungen weiterlas, dass zu den Maßnahmen auch die soziale Beratung und der Umgang mit Hilfsmitteln zählen und unter anderem Ergotherapeuten als Leistungserbringer genannt werden, fühlte ich mich in dieser Auffassung noch bestärkt. Doch vergeblich suchte ich nach konkreten Reha-Angeboten für Patienten mit massiven Seheinschränkungen und es drängte sich mir zunehmend der Verdacht auf, dass bei der Erarbeitung dieser Empfehlungen blinde und sehbehinderte Menschen schlicht vergessen wurden. Nun können Juristen mit Recht einwenden: Was nicht in den Empfehlungen aufgeführt ist, kann auch nicht eingefordert werden. Ich meine aber, dass wir auf politischem Wege einfordern müssen, dass die „vergessenen“ blinden und sehbehinderten Patienten angemessen Berücksichtigung finden. Diese Rahmenempfehlung bietet dafür eine hervorragende Basis.

Auch finanzielle Vorbehalte der gesetzlichen Krankenkassen dürften auf Dauer einer öffentlichen Diskussion nicht standhalten. So las ich vor Kurzem im Mitgliederheft 4/2010 der Barmer Ersatzkasse, dass die Deutschen im Jahr ca.175.000 neue Knie und 209.000 neue Hüften bekommen. Die Kosten pro Hüfte betragen 7626 und pro Knie 7373 Euro. Inklusive Folgebehandlungen werden pro Jahr insgesamt 3,5 Milliarden Euro ausgegeben, Tendenz steigend. Davon werden mehr als 600 Millionen Euro allein für die Folgekosten aufgewendet, also 1600 Euro pro Knie oder Hüfte. 1600 Euro, dachte ich spontan, das ist die gleiche Größenordnung wie 20 Stunden LPF-Training. Nun wissen wir aus einer Studie der Universität Marburg, dass 20 Stunden LPF-Training bei älteren Personen in den meisten Fällen ausreichend sind, und die Erfahrungen in Bayern haben gezeigt, dass gerade die große Zahl der Patienten mit einer Sehbehinderung in der Regel mit weitaus weniger Stunden auskommt. Wenn es um die notwendige Nachsorge einer Knie- oder Hüftoperation geht, steht das Geld offenbar zur Verfügung. Wenn es aber darum geht, einem blinden oder sehbehinderten Menschen zu mehr Selbstständigkeit in der Lebensführung zu verhelfen, wird geknausert.

Aus all dem geht für mich unstrittig hervor, dass die Vermittlung Lebenspraktischer Fähigkeiten zur Pflichtaufgabe der gesetzlichen Krankenkassen gehört und wir dies noch stärker als bisher einfordern müssen. Durch die Forderungen des Artikels 24, Abs.3 der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen wird dies noch unterstrichen.

Rudi Ullrich
Leiter des Ressorts „Kommunikation und Teilhabe“ der Deutschen Blindenstudienanstalt (Blista) und Mitglied des DBSV-Präsidiums