Originale betasten
Interview zwischen Reiner Delgado (DBSV) und Andreas Piel (Restaurator)
Zu Beginn des Projektes war es geplant, dass auch originale dreidimensionale Werke in der Dauerausstellung der Berlinischen Galerie von blinden und sehbehinderten Besucherinnen und Besucher betastet werden dürfen. Im Projektverlauf hat es sich dann gezeigt, dass dies nicht generell ermöglicht werden kann. Andreas Piel - Restaurator in der Berlinischen Galerie - erläutert im Interview die Hintergründe und zeigt Alternativen und Perspektiven auf.
Herr Piel, wie können Kunstwerke durch Anfassen Schaden nehmen?
Andreas Piel: Viele Kunstwerke sind nicht so gemacht, dass sie regelmäßiges Anfassen aushalten, was die Stabilität angeht, aber auch die Oberflächen. Der minimale Schweißfilm an den Fingern - auch bei sauberen Händen - enthält Salze, die chemisch sauer reagieren. Dies greift Oberflächen aus Metall, Kunststoff, Leder, Holz oder Textilien an. Flecken und Abnutzungen sieht man nicht heute oder morgen. Aber wir haben Skulpturen oder Bilderrahmen, die häufig ohne Handschuhe angefasst wurden beim Transport oder beim Aufhängen, die gut sichtbare Fingerabdrücke haben, die regelrecht in die Oberfläche reingefressen sind. Solche Abdrücke sind nicht durch 100- oder 1000-maliges Anfassen entstanden, sondern durch eine einzige Berührung.
Gibt es denn Möglichkeiten, Kunstwerke beim Anfassen zu schützen?
AP: Das Betasten mit Handschuhen ist für die Oberflächen tatsächlich ein sehr wirksamer Schutz. Und ich habe gesehen, dass blinde Menschen Kunstwerke meist sehr behutsam betasten. Das beugt einer Beschädigung natürlich vor. Wichtig ist auch, dass beim Betasten kein Schmuck getragen wird. Vor allem Ringe können versehentlich Kratzer verursachen.
Ist trotzdem Anfassen im Kunstmuseum generell unmöglich?
AP: Das stimmt so nicht. Die Berlinische Galerie kann Werke blinden und sehbehinderten Menschen auch zum Betasten zur Verfügung stellen. Dies geht z. B. mit Werken, die derzeit im Depot sind. Solche Kunstwerke können bei einer gesonderten Veranstaltung in einem extra Raum präsentiert und ausführlich betastet und besprochen werden. So kann sogar eine intensivere Erfahrung der Kunst ermöglicht werden, als im Rahmen der öffentlichen Ausstellung selbst. In der Ausstellung können Werke ebenfalls im Rahmen von Führungen betastet werden, wenn die Beaufsichtigung gegeben ist und klar begrenzt ist, wer anfassen darf. Das Anfassen im regulären öffentlichen Museumsbetrieb blinden und sehbehinderten Personen zu erlauben, ist sehr schwer zu bewältigen; es ist vor Ort schwer zu überprüfen, wer eine Seheinschränkung hat und alle nicht befugten Besucherinnen und Besucher am Betasten zu hindern. Ein weiteres Problem ergibt sich in Wechselausstellungen bei Leihgaben; zu den Ausleihbedingungen gehört es in aller Regel, dass das Betasten der geliehenen Werke untersagt sein muss.
Wie könnte dann künftig auch in der Berlinische Galerie das Betasten von Kunstwerken möglich sein?
AP: Es sind besondere Termine mit einigen ausgewählten Werken aus dem Depot möglich. Themen von besonderen Veranstaltungen könnten sein: Einzelne Materialien, Oberflächen, Portraits oder Tiere. Im Konferenzraum an Tischen wäre eine insgesamt bequemere Tastsituation möglich. Die Beaufsichtigung ist einfach und viele Werke könnten dann auch ohne Handschuhe betastet werden. Denkbar wären darüber hinaus auch Führungen in der Dauerausstellung, bei denen Werke betastet werden können.
Sind solche Angebote auch inklusiv denkbar, also nicht nur speziell für blinde und sehbehinderte Menschen? An vielen Skulpturen gibt es Details, die kaum sichtbar oder an der "Rückseite" sind. Solche würden auch sehenden Besucherinnen und Besucher eher auffallen, wenn sie die Werke betasten könnten.
AP: Ja, solche Details gibt es. Beim Vogelwesen von Hans Uhlmann sieht man eine Biegung im Kopfbereich gar nicht, wenn man die Skulptur von der Seite ansieht und beim Abschied von Hermann Nonnenmacher ist die abweisende Haltung des Mannes auch an den Händen auf der Rückseite zu erkennen.
(Interview von Reiner Delgado)