Europawahl 2024 – Das fordert der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV)
Am 9. Juni 2024 wählen die Bürgerinnen und Bürger Europas zum zehnten Mal das Europäische Parlament. Es werden 720 Sitze vergeben, darunter 96 Sitze für Abgeordnete aus Deutschland. Bedeutende Regelungen der vergangenen Jahre für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gehen auf europäische Initiativen zurück. Es ist aber noch viel zu tun, um die volle, wirksame und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen zu verwirklichen. Daher formuliert der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) anlässlich der Europawahl 2024 folgende Forderungen für die Legislaturperiode 2024-2029:
1 Engagement in der Disability Intergroup
Die Disability Intergroup ist eine fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe des Europaparlamentes. Der erfolgreiche Einsatz des Parlamentes für Menschen mit Behinderungen kann auf die Vernetzung und den Wissenstransfer in dieser Intergroup zurückgeführt werden. Lediglich zwei von 96 deutschen Abgeordneten waren in der aktuellen Legislatur Mitglieder der Intergroup, im Gegensatz zu 13 der 76 italienischen oder 16 der 59 spanischen Abgeordneten.
Wir fordern die gewählten deutschen Abgeordneten des Europaparlamentes aller Fraktionen auf, sich in der Disability Intergroup aktiv zu engagieren.
2 Neue Dynamik gegen Diskriminierung
Vor über 15 Jahren schlug die Europäische Kommission die horizontale Antidiskriminierungsrichtlinie vor, um die Bürgerinnen und Bürger vor Diskriminierung aus allen Gründen zu schützen, sei es wegen einer Behinderung, des Alters, der sexuellen Ausrichtung oder der religiösen Überzeugung. Leider ist die Richtlinie, die vom Parlament stets unterstützt wurde, im Rat weiterhin blockiert.
Wir erwarten von den neuen Deutschen Abgeordneten, dass sie sich für die Verabschiedung der horizontalen Antidiskriminierungsrichtlinie einsetzen oder, falls erforderlich, einen weitergehenden alternativen Richtlinienvorschlag unterstützen. Der Diskriminierungsschutz aufgrund einer Behinderung muss europaweit über den Bereich der Beschäftigung hinaus einheitlich und effektiver geregelt werden. Für einen besseren Rechtsschutz bei erfolgter Diskriminierung sind die Befugnisse und Mittel der Gleichstellungsstellen zu stärken.
Wir fordern die Abgeordneten des Europaparlamentes auf, über eine Resolution unter fraktionsübergreifender deutscher Federführung neuen Druck auf die blockierenden Mitgliedsstaaten auszuüben, damit endlich ein starker Diskriminierungsschutz in Europa entsteht.
3 Barrierefreiheit als Schlüssel zur Teilhabe
Inklusion braucht Barrierefreiheit! Egal ob im digitalen Raum, bei der bebauten Umwelt, bei der Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen: Europa muss Motor für mehr Barrierefreiheit sein. Das fördert die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und verhindert Diskriminierung. Barrierefreiheit trägt zu qualitativ besseren Angeboten bei und unterstützt den Wettbewerb der Wirtschaftsakteure im internationalen Kontext.
- Das EU-Zentrum für Barrierefreiheit "Accessible-EU" muss weiterbestehen und weiterentwickelt werden, so dass es befugt ist, in Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten mit Behinderungen europäische Standards zur Barrierefreiheit zu befördern und konkrete Vorschläge für Gesetzesvorhaben zu unterbreiten. Nur durch diese Weiterentwicklung und Stärkung kann "Accessible-EU" seine Rolle als zentrale Institution für die Förderung der Barrierefreiheit in der Europäischen Union erfüllen und sicherstellen, dass die Bedarfe und Rechte von Menschen mit Behinderungen angemessen berücksichtigt werden. Wir fordern daher die gewählten deutschen Abgeordneten des Europaparlamentes auf, sich dafür einzusetzen, dass „Accessible-EU“ von einem Pilotprojekt zu einer vollwertigen und effektiven europäischen Agentur für Barrierefreiheit ausgebaut wird.
- Der European Accessibility Act - Rl (EU) 2019/882 - war ein wichtiger Schritt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, indem Wirtschaftsakteure verpflichtet werden, bestimmte Produkte und Dienstleistungen barrierefrei anzubieten. Auf diesem Weg muss es weitergehen. Wir fordern die gewählten Abgeordneten des Europaparlamentes auf, sich dafür einzusetzen, dass deutlich mehr Produkte und Dienstleistungen in den Anwendungsbereich einbezogen werden und vorhandene Schutzlücken geschlossen werden.
- Moderne Haushaltsgeräte werden häufig über Touchscreen oder Sensor-Tasten gesteuert, nicht mehr über haptische Bedienelemente. Wenn überhaupt vorhanden, haben Drehregler und Tasten keine fühlbaren Markierungen und geben bei Betätigung weder haptische noch akustische Rückmeldung. Wir fordern daher die gewählten deutschen Abgeordneten des Europaparlamentes auf, der Europäischen Kommission anzutragen, Barrierefreiheitsrichtlinien hinsichtlich Haushaltselektronik vorzuschlagen. Dazu gehört die Anwendung von „Design for All“ und die Einbeziehung der Barrierefreiheit als Zielsetzung in den Entwicklungs- und Designprozess.
- Bislang fehlt es an einer verbindlichen europäischen Regelung zur Barrierefreiheit der gebauten Umwelt. Blinde und sehbehinderte Menschen sind aber unbedingt auf eine barrierefreie Umweltgestaltung angewiesen, um ihr Leben selbstbestimmt und gleichberechtigt führen zu können. Die geplante Änderung der Rechtsvorschriften für die gebaute Umwelt im Rahmen des EU-Green Deal für die Sanierung von Gebäuden und Infrastruktur bieten eine Gelegenheit, dies endlich zu ändern. Wir fordern daher die gewählten deutschen Abgeordneten des Europaparlamentes auf, der Europäischen Kommission anzutragen, Barrierefreiheitsrichtlinien hinsichtlich der baulichen Umwelt vorzuschlagen.
- Medizinprodukte, die Patientinnen und Patienten zu therapeutischen Zwecken selbst anwenden, sind oft nicht barrierefrei oder Menschen mit Behinderungen werden aus vermeintlichen haftungsrechtlichen Gründen von deren Nutzung explizit ausgeschlossen. Dadurch ist z. B. die lebenslange Selbsttherapie des Diabetes mellitus für sehbehinderte und blinde Menschen aktuell nicht gewährleistet. Wir fordern daher die gewählten deutschen Abgeordneten des Europaparlamentes auf, sich für eine Reform des Medizinprodukterechts einzusetzen, damit notwendige medizintechnische Hilfsmittel, wie insbesondere Blutzuckermessgeräte, Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung, Pens, Pumpen, Systeme zur automatisierten Insulindosierung etc. und digitale Gesundheitsanwendungen so gestaltet werden müssen, dass sie auch von Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung oder Blindheit barrierefrei nutzbar sind.
4 Gleichberechtigte und sichere Mobilität
Das Recht auf Freizügigkeit in der EU bedingt zwingend gute Rahmenbedingungen für diskriminierungsfreie Mobilität. In einer inklusiven Gesellschaft müssen sich sehbehinderte und blinde Menschen genauso frei bewegen und reisen können wie Menschen ohne Seheinschränkung. Hier kann und muss die EU die Weichen für mehr Teilhabe stellen:
- Dank der starken Intervention der Weltblindenunion unter Federführung des DBSV haben sich die Vertragsparteien der UNECE (Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa) erst kürzlich mit der Notwendigkeit befasst, das Akustische Warnsignal für Elektro- und Hybridfahrzeuge qualitativ zu verbessern. Nun ist es an der Europäischen Kommission, diese neuen Regeln durch einen delegierten Rechtsakt für die EU umzusetzen. Wir fordern die gewählten Mitglieder des Europaparlamentes auf, auf der Grundlage eines Berichts eines seiner Ausschüsse mit der Mehrheit seiner Mitglieder die Kommission aufzufordern, einen geeigneten Legislativvorschlag für eine bessere Wahrnehmbarkeit von Elektro- und Hybridfahrzeugen zu unterbreiten.
- Wir fordern die Abgeordneten ferner auf, dass die Bedürfnisse von blinden und sehbehinderten Menschen bei rechtlichen Entwicklungen im Zusammenhang mit vernetzten und autonomen, d. h. fahrerlosen Fahrzeugen frühzeitig berücksichtigt werden, und zwar sowohl als gefährdete Fußgängerinnen und Fußgänger als auch als Nutzende von autonom fahrenden Fahrzeugen des öffentlichen Personenverkehrs und in privaten Fahrzeugen. Blinde und sehbehinderte Menschen dürfen hier nicht ausgeschlossen werden.
- Wir erwarten von den neuen Abgeordneten des Europäischen Parlaments schließlich, dass sie sich bei der anstehenden Aktualisierung der EU-Verordnung über Fahrgastrechte für die Belange von Menschen mit Behinderungen einsetzen.
5 Marrakesch-Vertrag
Aktuell wird der europäische Rechtsrahmen zur Umsetzung des Marrakesch-Vertrags auf einen möglichen Weiterentwicklungsbedarf hin überprüft. Der Vertrag von Marrakesch ermöglicht es autorisierten Einrichtungen, Sprachwerke, wie z. B. Bücher, in einem barrierefreien Format, wie etwa Braille, Großdruck oder Audio, zu produzieren und sie innerhalb der EU und weltweit mit anderen Vertragsstaaten blinden und sehbehinderten Menschen zur Verfügung zu stellen. Das ist notwendig, da nur ein kleiner Teil aller veröffentlichten Sprachwerke in für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Formaten produziert wird. Das schließt blinde und sehbehinderte Menschen vom Zugang zu Literatur und damit von Bildung, Arbeit, Kultur und Meinungsbildungsprozessen aus.
Wir fordern daher die gewählten deutschen Abgeordneten des Europaparlaments auf, sich dafür einzusetzen, dass in überarbeiteten Rechtsakten zum Vertrag von Marrakesch alle bisherigen Rechte für Menschen mit Behinderungen und autorisierte Einrichtungen zur Herstellung und Verbreitung zugänglicher Formate erhalten bleiben und dass die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, ein Entschädigungsrecht für Rechteinhaber vorzusehen, gestrichen wird. Die Entschädigungszahlungen belasten behinderte Menschen, weil die von den autorisierten Einrichtungen zu zahlenden Entschädigungen an Rechteinhaber nicht zur Verfügung stehen, um mehr barrierefreie Literatur herzustellen.
6 Inklusion in der europäischen Filmförderung
Die EU sollte finanzielle Förderungen für Produkte oder Dienstleistungen grundsätzlich daran knüpfen, dass sie inklusiv ausgerichtet und damit von Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt nutzbar sind. Das bedeutet auch, dass EU-Förderungen im Rahmen des MEDIA-Teils des Programms Kreatives Europa , dem EU-Förderinstrument für grenzüberschreitende Filmproduktionen, die Belange von Menschen mit Behinderungen stärker berücksichtigen müssen.
Im Zusammenhang mit der anstehenden Evaluation und Weiterentwicklung der Verordnung über das Programm Kreatives Europa für den Zeitraum 2021-2027 erwarten wir, dass die neuen Abgeordneten des Europaparlaments die Europäische Kommission dazu drängen, strengere Vorgaben für die Audiodeskription und die Audiountertitelung für die MEDIA-Förderung einzuführen, mit einem Benchmarking der Fortschritte. Ziel muss es sein, dass - ähnlich wie in Deutschland - alle geförderten Filme auch barrierefreie Filmfassungen, wie Audiodeskription und Untertitelung, haben müssen.
7 Brailleschrift stärken
Die Brailleschrift hat für blinde Menschen nach wie vor eine große Bedeutung. Die Entwicklung von Informationstechnologien, die blinden und sehbehinderten Menschen einen schnellen Zugang zu Informationen über die auditive Wahrnehmung ermöglichen, ändert daran nichts. Wie in unserer Erklärung von 2023 erläutert, ist die Brailleschrift eine universelle, wirksame und für viele blinde Menschen selbstverständliche Möglichkeit für den Zugang zu Informationen und - was besonders wichtig ist - ein maßgeblicher Faktor für eine qualitativ hochwertige Bildung und Persönlichkeitsentwicklung.
Wir fordern daher die neuen Abgeordneten des Europaparlamentes auf, sich dafür einzusetzen, dass EU-Mittel in die Verbesserung der Kenntnis und Verfügbarkeit der Brailleschrift investiert werden.
8 Disability Mainstreaming
Generell gilt bei allen Gesetzesvorhaben und Europäischen Initiativen, dass die Situation von Menschen mit Behinderungen in vielen Politikfeldern oft nur unzureichend mitgedacht wird. Um gleichberechtigten Schutz ihrer Gesundheit und Selbstbestimmung sicherzustellen, braucht es ein konsequentes ressortübergreifendes Disability Mainstreaming auf europäischer Ebene.
Wir fordern daher die neuen Abgeordneten des Europaparlamentes auf, der Europäischen Kommission anzutragen, Disability Mainstreaming rechtlich bindend zu verankern und zu berücksichtigen.
Das Europäische Parlament ist seit vielen Jahrzehnten ein starker Verbündeter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Europa. Wir zählen darauf, dass das neue Parlament in diese Fußstapfen treten wird. Die kommenden fünf Jahre werden dem Parlament viele Möglichkeiten bieten, sich für eine inklusive Europäische Union einzusetzen. Einer der zentralen Schlüssel dafür ist der 7-jährige Haushaltsrahmen (2028-2034). Als Mitgesetzgeber wird das Parlament die Möglichkeit haben, sicherzustellen, dass im Rahmen der neuen Finanzierungsinstrumente alle EU-Ausgaben tatsächlich zur Förderung der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und damit zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention genutzt werden. Wir erwarten ebenfalls, dass die deutschen Abgeordneten eine aktive Rolle bei der Gestaltung und ambitionierten Verfolgung der Initiativen übernehmen, die sich aus der Behindertenrechtsstrategie 2021-2030 ergeben.