Resolution für eine gerechte Blindengeldlösung
Für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen gibt es in Deutschland keine gleichen Lebensbedingungen mehr. Immer wieder wurde in den letzten Jahren ihre wichtigste Unterstützungsleistung, das Blindengeld, gekürzt. In fünf Ländern liegt es mittlerweile unter der Hälfte des Blindenhilfesatzes, wie er nach § 72 des Sozialgesetzbuches XII festgelegt ist. So wird etwa in Brandenburg und Thüringen nur noch ein monatlicher Betrag von rund 270 Euro ausbezahlt. Damit kann unter Berücksichtigung des Mindestlohns nicht einmal eine Stunde individueller Unterstützung täglich finanziert werden. Unter 18-jährige erhalten in manchen Ländern nur 25 Prozent der Leistungen anderer Länder. In Heimen gibt es Blindengeld von null Euro bis zur Hälfte des Blindenhilfesatzes. Menschen an der Schwelle zur Blindheit erhalten in zehn Ländern gar keine Unterstützung. Und 25 Jahre nach der deutschen Einheit liegen die Blindengeldleistungen der neuen Länder immer noch bei nur rund 70 Prozent der Leistungen der alten Länder.
Es besteht dringender Handlungsbedarf zur Schaffung eines bundeseinheitlichen, rechtssicheren, den Bedarf angemessen berücksichtigenden und damit gerechten Nachteilsausgleichs für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen in Deutschland. Eine entsprechende Regelung muss im Rahmen des neuen Bundesteilhabegesetzes geschaffen werden, denn nur so gibt es die Chance auf ein gerechtes Teilhabegesetz auch für blinde, hochgradig sehbehinderte und taubblinde Menschen.
Um diese Forderung zu bekräftigen, verabschiedete der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) in seiner Verwaltungsratssitzung am 9. Mai 2015 in Nürnberg einstimmig die folgende Resolution.
Resolution
Mit dem Bundesteilhabegesetz eine bundesweit einheitliche gerechte Blindengeldlösung schaffen!
Der Verwaltungsrat des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) fordert die Bundesregierung auf, im Rahmen der Schaffung des Bundesteilhabegesetzes eine Geldleistung vorzusehen, damit endlich alle blinden, hochgradig sehbehinderten und taubblinden Menschen in Deutschland einen angemessenen bundeseinheitlichen und damit gerechten Nachteilsausgleich zur Deckung ihrer spezifischen behinderungsbedingten Mehrbedarfe erhalten. Dabei müssen folgende Grundsätze gelten:
- Die Teilhabegeldleistung muss einen der heutigen Blindenhilfe vergleichbaren Charakter – insbesondere hinsichtlich des typisierenden Zugangs zu dieser Leistung, der Art der Mittelverwendung, ihres Verwendungszwecks und der Dynamisierung haben.
- Die in den Landesblindengeldregelungen bewährte Leistungsgewährung ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen muss auf die Bundeslösung übertragen werden.
- Die pauschaliert zu erbringenden Leistungen müssen am Bedarf orientiert gestaffelt werden. Für den Bedarf bei Blindheit bedeutet dies, dass die Höhe der Geldleistung der ungekürzten Blindenhilfe gem. § 72 SGB XII entsprechen muss, denn dieser Betrag unterliegt den sehr engen Vorgaben des Sozialhilferechts und bildet damit das Minimum des Mehrbedarfs blinder Menschen bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ab. Daran anschließend ist die Hilfe bei hochgradiger Sehbehinderung, wie zum Beispiel in Hessen geregelt, mit 30 % des bei Blindheit gewährten Betrages angemessen berücksichtigt. Der Bedarf bei Taubblindheit ist wegen der besonders großen Auswirkungen auf die Teilhabe mindestens in zweifacher Höhe des bei Blindheit gewährten Betrages anzusetzen.
- Für Bereiche, in denen ein Höchstmaß an Individualität bzw. Zielgenauigkeit gefragt ist (zum Beispiel bei den Fachleistungen zur beruflichen Eingliederung) sowie in Fällen, in denen aufgrund der Besonderheit des Einzelfalles (zum Beispiel wegen des Ausmaßes und der Auswirkungen der Behinderungsfolgen) den Betroffenen mit einer pauschalierten Leistung nicht im erforderlichen Umfang Rechnung getragen werden kann, kann und muss es darüber hinaus weiterhin im Rahmen des Bedarfsdeckungsprinzips individuell erforderliche Teilhabeleistungen geben.
Die bundesweit einheitliche gerechte Blindengeldlösung kann entweder im Rahmen einer für alle Menschen mit wesentlichen Teilhabebeeinträchtigungen vorzusehenden Geldleistung „mitgedacht“ werden, im Rahmen des neuen Teilhaberechts als budgetierte Leistung bzw. als eigener Leistungsanspruch ausgestaltet werden oder schlicht im Rahmen einer Reform der Blindenhilfe gem. § 72 SGB XII Berücksichtigung finden.
Warum braucht jeder blinde Mensch eine finanzielle Unterstützung?
Die fehlende visuelle Wahrnehmung hat eine massive Teilhabeeinschränkung in nahezu allen Lebensbereichen zur Folge. Sehverlust bedeutet eine deutliche Einschränkung der Orientierungsfähigkeit und damit der eigenständigen Mobilität. Gleichzeitig ist der Zugang zu Informationen jeglicher Art erheblich erschwert, teilweise gänzlich ausgeschlossen. Zeitung, Post oder Bücher lesen, beim Einkaufen die Produkte oder Preise erkennen, den Haushalt selbstständig führen, einen Beruf ausüben, die digitale Welt nutzen, die nonverbale Kommunikation Anderer deuten, sich eigenständig in fremder Umgebung zurechtfinden – sei es in einer anderen Stadt, im Urlaub oder auch nur im Park um die Ecke – all das geht ohne sehen zu können gar nicht oder nur sehr eingeschränkt. Ein hohes Maß an individueller Assistenz, allgemeine Unterstützung, der Einsatz spezieller Hilfsmittel und ein damit verbundener erheblicher finanzieller Aufwand sind daher unvermeidbar.
Warum Bund und Länder endlich aktiv werden müssen
Parallel zum System der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein sehr spezielles "Blindengeldsystem" entwickelt bestehend aus Landesleistungen und nachrangiger im Sozialhilferecht verankerter Blindenhilfe gem. § 72 SGB XII. Diese beiden Leistungen sind es im Wesentlichen, die blinde Menschen für die Deckung ihrer zahlreichen Mehraufwendungen, Assistenzleistungen und Hilfsmittel einsetzen. Im Vergleich zu anderen Gruppen behinderter Menschen ist es nicht zuletzt dank dieser Geldleistungen so, dass nur sehr wenige blinde Menschen in teuren Einrichtungen der Behindertenhilfe leben müssen.
Eine besondere Relevanz kommt dabei bislang den Leistungen der Länder – dem sog. Landesblindengeld – zu. Im Rahmen freiwilliger sozialer Leistungen erbringen sie den Löwenanteil der Hilfen an blinde Menschen, was wir durchaus zu schätzen wissen. Seit langem haben sich die Rahmenbedingungen allerdings deutlich verändert, was zu folgenden Problemen führt:
- Die letzten Jahre waren von ständigen Auseinandersetzungen um den Erhalt der Landesleistungen für blinde Menschen geprägt. Gipfel der Einsparungen war die vorübergehende Abschaffung des Landesblindengeldes in Niedersachsen, die zur Folge hatte, dass sich die Ausgaben der Sozialhilfe als nachrangiges Unterstützungsnetz schlagartig verzehnfachten, während ihr Rückgang so langsam verläuft, dass sie acht Jahre nach Wiedereinführung des Blindengeldes immer noch viereinhalbmal so hoch wie zuvor sind.
- In Folge massiver und durchweg finanzpolitisch motivierter Kürzungen fallen die Blindengeldleistungen in einigen Bundesländern mittlerweile so gering aus, dass diese nicht annähernd die hohen blindheitsbedingten Bedarfe abzudecken vermögen. So wird etwa in Brandenburg und Thüringen nur noch ein monatlicher Betrag von rund 270 € ausbezahlt. Damit kann unter Berücksichtigung des Mindestlohns nicht einmal eine Stunde individueller Unterstützung täglich finanziert werden, sonstige behinderungsbedingte Mehraufwendungen, wie Hilfsmittel, Taxifahrten etc., nicht mitgerechnet.
- Die Landesblindengelder sind in Bezug auf die Höhe der gewährten Leistungen mittlerweile extrem unterschiedlich – trotz bundesweit gleicher Bedarfslagen blinder Menschen. Es sind keine bundeseinheitlichen Lebensbedingungen mehr gewährleistet. So beträgt das Landesblindengeld in fünf der 16 Bundesländer weniger als die Hälfte des Betrages der Blindenhilfe, wie sie durch § 72 SGB XII vorgesehen ist. Unter 18-jährige erhalten in manchen Ländern nur 25 % der Leistungen anderer Länder. In Heimen gibt es Blindengeld von 0 Euro bis zur Hälfte des Blindenhilfesatzes.
- Mit Schaffung der neuen Länder wurden auch dort Blindengeldleistungen eingeführt. Nach 25 Jahren sind diese jedoch immer noch nicht an die Leistungen der alten Länder angeglichen. Die neuen Länder liegen im Vergleich beinahe ausnahmslos im letzten Drittel, ihre Leistungen betragen im Schnitt nur 70 % der Unterstützung in den alten Ländern.
- Unbestritten ist, dass auch hochgradig sehbehinderte Menschen, die an der Schwelle zur Blindheit stehen, sowie taubblinde Menschen, die wegen der fehlenden Kompensationsmöglichkeit durch das Gehör in ganz besonderem Maße beeinträchtigt sind, einen erheblichen behinderungsbedingten Mehrbedarf haben. Trotzdem sind nur in einem Teil der Landesgesetze spezifische Leistungen für taubblinde und hochgradig sehbehinderte Menschen vorgesehen.
- Schließlich sind die Landesgesetze in Bezug auf innerdeutsche Grenzüberschreitungen nicht harmonisiert, was dazu führt, dass Betroffene nach ihrem Umzug von einem in ein anderes Bundesland in manchen Fällen überhaupt keine Leistungen mehr erhalten.
Aus diesen Gründen besteht dringender Handlungsbedarf zur Schaffung eines bundeseinheitlichen, rechtssicheren, den spezifischen Bedarf angemessen berücksichtigenden und damit gerechten Nachteilsausgleichs. Entsprechende Regelungen dürfen im Rahmen des neuen Teilhabegesetzes keinesfalls unberücksichtigt bleiben, denn nur so gibt es die Chance auf ein gerechtes Teilhabegesetz auch für blinde, hochgradig sehbehinderte und taubblinde Menschen.
Wie kann der Nachteilsausgleich finanziert werden?
Mit Einführung eines durch den Bund finanzierten Nachteilsausgleichs für blinde, hochgradig sehbehinderte und taubblinde Menschen in der beschriebenen Höhe ergibt sich eine jährliche Entlastung der Länder und Kommunen von bis zu rund 550 Mio. €. Das sind zurzeit die jährlichen Haushaltsansätze für die Landesblindengeld- und Blindenhilfeleistungen. Zusätzlich zu diesem möglichen kostenneutralen Finanztransfer entstehen dem Bund durch die an der Höhe der Blindenhilfe ausgerichtete und damit den behinderungsbedingten Unterstützungsbedarf abbildende Ausgestaltung der Bundesleistung Mehrbelastungen i. H. v. rund 200 Mio. €. Eine neue Ausgabendynamik wird dadurch aber nicht generiert. Zum einen würden durch ein Bundesteilhabegeld, wie es hier vorgeschlagen wird, lediglich die durch die Haushaltssituation der Länder verursachte, aber keinesfalls mit dem behinderungsbedingten Mehrbedarfen in Einklang stehende Kürzung der Blindengelder korrigiert und es würde bundesweit einheitlich die Teilhabeeinschränkung in dem erforderlichen Maße für alle Betroffenen am behinderungsbedingten Bedarf orientiert ausgeglichen. Zum anderen werden die Ausgaben des Bundes perspektivisch wieder sinken, da ein stetiger Rückgang gesetzlich blinder Menschen von derzeit rund 2 % jährlich zu verzeichnen ist.
Einstimmig verabschiedet vom Verwaltungsrat des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e. V. in Nürnberg am 9. Mai 2015.