Blindes Kind, dunkle Zukunft?
Positionen der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe 2008 zum Thema Bildung.
Laut Kultusministerkonferenz besuchen 7.000 Kinder mit dem Förderschwerpunkt „Sehen“ die deutschen Schulen, der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) schätzt aber, dass es mindestens 14.000 blinde und sehbehinderte Schüler gibt. Das sind nur 0,1% bzw. 0,2 % aller Schüler in Deutschland, eine kleine Gruppe, die bei „großen Würfen“ in der Bildungspolitik schon mal leicht vergessen werden kann. Die optimale Förderung in der Schulzeit ist aber entscheidend für die Chance auf Teilhabe und Integration in unserer Gesellschaft. Deshalb treten wir für genau diese Gruppe ein.
Für blinde Schüler stehen heute ausgereifte pädagogische Konzepte zur Verfügung, durch die sie genau so lernen können wie Kinder mit normalem Sehvermögen auch. Sie können lernen, über ihre Sinne die Welt zu erfassen und sich innere Bilder von komplizierten Zusammenhängen zu machen. Ihr Tastsinn wird geschult. Sie können mit Hilfe der Blindenschrift lesen, schreiben und rechnen, Musik nach Noten spielen und komplizierte mathematische Formeln bearbeiten. Sie können lernen, sich mit tastbaren Unterrichtsmaterialien, wie Landkarten oder naturwissenschaftlichen Modellen und Skizzen, Vorstellungen von der Welt zu machen und mit technischen Hilfsmitteln am Computer zu arbeiten. Sie können lernen, ihren Alltag selbst zu meistern und sich in bekannten und fremden Umgebungen selbst zu orientieren.
Sehbehinderte Schüler können heute lernen, ihr Sehvermögen optimal auszunutzen und mit optischen und elektronischen Sehhilfen genau so gut zu arbeiten, wie Sehende. Durch spezielle Frühförderung lernen Kinder mit Seheinschränkung im Vorschulalter bereits ihre Sinne optimal zu nutzen, sich natürlich zu bewegen und geistig rege zu entwickeln.
Aufgrund unserer demografischen Entwicklung und medizinischer Entwicklungen wächst der Anteil der Schüler, die außer einer Sehbehinderung noch weitere teils gravierende Einschränkungen haben. Auch für diese Menschen gibt es spezielle pädagogische Förder- und Bildungskonzepte. Etwa 27 % der blinden und sehbehinderten Schüler besuchen heute eine allgemeine Schule, ein doppelt so hoher Anteil wie bei behinderten Schülern allgemein (13 %).
Doch die Errungenschaften in der Förderung und Bildung junger blinder und sehbehinderter Menschen werden durch viele aktuelle Entwicklungen bedroht:
- Durch finanzielle Einsparungen im Sozial- und Bildungssektor werden oft zuerst kleinere Gruppen - wie die blinden und sehbehinderten Schüler - getroffen.
- Bildungspolitik und auch Sonderpädagogik streben zunehmend an, die spezielle Förderung von Menschen mit besonderen Voraussetzungen einzuschränken zugunsten einer allgemeinen „Mainstreamförderung“, die versucht, allen Besonderheiten der Schüler gerecht zu werden.
- In der föderalen Struktur der Bundesrepublik liegt die Verantwortung für Bildung bei den Bundesländern. So entstehen gerade für blinde und sehbehinderte Schüler Bildungsangebote von sehr unterschiedlicher Qualität.
- Die Förderschulen für Blinde und Sehbehinderte haben teils kaum Lehrkräfte mit einer Qualifikation als Blinden- und Sehbehindertenpädagogen.
Der DBSV und der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. (DVBS) setzen sich für folgende Punkte ein:
1. Sozial- und bildungspolitische Rahmenbedingungen
- Bildungsangebote für blinde und sehbehinderte junge Menschen müssen bundesweit in gleicher Mindestqualität zur Verfügung stehen. Diese darf nicht je nach Landesregelungen nach unten abweichen.
- Der Mehraufwand an Förderung, Lern- und Hilfsmitteln für blinde und sehbehinderte Schüler muss grundsätzlich finanziert werden. Eine Finanzierung einzelner Leistungen durch die Sozialhilfe ist da nicht ausreichend.
- Bildung für blinde und sehbehinderte Schüler muss in Förderschulen und in allgemeinen Schulen personell und materiell gleichartig ausgestattet sein. Die Wahl der Schulform muss den Schülern und ihren Eltern obliegen. Ein Wechsel zwischen Förderschule und allgemeiner Schule und umgekehrt muss stets möglich sein. Finanzielle Aspekte dürfen in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen, sondern ausschließlich pädagogische Kriterien.
2. Medien und Materialien
- Blinde Schüler müssen im Rahmen der Schulbildung Brailleschrift lesen und schreiben lernen, und zwar in der Grundschule vor allem die deutsche Vollschrift und später auch die deutsche Kurzschrift und die Brailleschriftsysteme für Mathematik, Chemie und Musiknoten. Entsprechende Unterrichtsmaterialien müssen den Schülern zu Verfügung stehen.
- Schulbücher und alle anderen Materialien, die im Unterricht benutzt werden, müssen für blinde und sehbehinderte Schüler genauso und genauso schnell zur Verfügung stehen, wie für ihre sehenden Mitschüler.
- Blinde und sehbehinderte Schüler müssen in der Nutzung solcher Materialien geschult werden und Arbeitstechniken für die verschiedensten Aufgabenstellungen erlernen.
3. Soziale Förderung
- Blinde und sehbehinderte Schüler brauchen Grundrehabilitation in den Bereichen „Lebenspraktische Fähigkeiten“ und „Orientierung und Mobilität“, damit sie ihr Leben so unabhängig und selbstständig gestalten können, wie ihre Altersgenossen. Diese sozialen bzw. medizinischen Leistungen müssen allen Betroffenen ohne Hürden angeboten werden.
- Bewegungserziehung ist gerade für Schüler mit Seheinschränkung besonders wichtig. Sportunterricht muss für die Betroffenen im normalen Umfang stattfinden und zwar mit Sportarten, die für sie möglich sind und sie in Bewegung, Körperkoordination und Orientierung fördern.
- Schüler mit Seheinschränkung brauchen Angebote zur Stärkung ihrer sozialen Kompetenzen, um ihre persönliche Situation bewältigen zu können und natürlich und ungezwungen im Kontakt mit anderen Menschen leben zu können.
4. Qualifikation der Lehrkräfte
- Für den Unterricht an Förderschulen für Blinde und Sehbehinderte und auch für die Förderung an allgemeinen Schulen müssen ausreichend qualifizierte Blinden- und Sehbehindertenpädagogen zur Verfügung stehen. Diese Aufgaben können nicht von Lehrkräften ohne diese Qualifikation geleistet werden.
- Die vier Lehrstühle für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik in Deutschland - Berlin, Dortmund, Hamburg, Heidelberg - müssen unbedingt erhalten bleiben und so ausgestattet werden, dass sie den Ansprüchen an Forschung und Lehre gerecht werden.