Louis Braille, ein Blinder erfindet die Blindenschrift

Den nachstehenden Vortrag hat Herr Schmohl zum Braille-Jubiläum am 13. Januar 2009 in Gernsbach gehalten.

Wir danken Edmund und Barbara Kraus für die Übertragung des Punktschrift-Manuskriptes in Schwarzschrift. So konnten wir es auf diesen Seiten allen Interessierten zugänglich machen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Der Mensch war immer schon ein Augentier. Deshalb galt Blindheit seit Alters her als härtestes Los, das einen treffen konnte. Noch heute kann man gelegentlich von den Blinden als den "Ärmsten der Armen" reden hören. Auch heute noch gibt es Menschen, die ein heimliches Grauen beschleicht, wenn sie zum ersten Mal einem Blinden begegnen.

(1)

Der blinde Mensch stand mehr oder weniger außerhalb der gesellschaftlichen Norm. Erfreulicherweise hat sich das in den letzten 100 Jahren nach und nach geändert. Dreierlei Vorstellungen vom Blinden entwickelte die sehende Umwelt:

  • Man traute ihm Verbindung zu übernatürlichen Mächten zu und damit die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Es sei in diesem Zusammenhang an den blinden Seher Teiresias in Homers Iliade erinnert.
  • Wieder andere sahen im Blinden einen von der Gottheit bestraften Menschen. Blendung war eine der grausamsten Strafen des Mittelalters. Davon erzählt die Geschichte vom Meier Helmbrecht, eines der ältesten Prosastücke in deutscher Sprache.
  • Die breite Masse hielt den Blinden schlicht für unbildungsfähig nach dem Motto „blind = blöd“.

So musste das Gros der Blinden bis ins 19. Jahrhundert hinein ein elendes Bettlerdasein fristen. Man hatte schon Glück, wenn man nicht noch dazu in die Hände skrupelloser Geschäftemacher geriet. Reiche Familien versteckten ihre blinden Mitglieder vor der Außenwelt. Wer besonderes Glück hatte, fand vielleicht Aufnahme in einem kirchlichen Blindenasyl - nur ganz wenigen gelang es, sich aus diesem Sumpf zu erheben.

Eine musikgeschichtlich bedeutende Persönlichkeit sei genannt. Konrad Paumann brachte 1452 in Nürnberg sein „Fundamentum organisandi“ heraus, die älteste Orgelschule der Musikgeschichte. Ein zweites Beispiel liefert uns der zu seiner Zeit berühmte Mathematiker Nikolaus Saunderson, der im 18. Jahrhundert in England lebte. Die wohl interessanteste blinde Musikerpersönlichkeit des 18. Jahrhunderts ist Maria Theresia von Paradis, die von 1759 - 1824 in Wien lebte. Sie war eine berühmte Pianistin. Mozart schrieb für sie sein Klavierkonzert KV-456 in B.

Wir sind inzwischen im Zeitalter der Aufklärung und der Humanität angekommen. Die Menschenrechte werden postuliert. Jedem einzelnen wird, wenigstens auf dem Papier, die freie Entfaltung der Persönlichkeit zugestanden. Einer der wichtigsten Repräsentanten dieser Zeit ist Valentin Haüy (1745 - 1822). Er gilt als Vater der europäischen Blindenbildung. Anlässlich eines Konzerts, das Fräulein von Paradis in Paris gab, begegnete sie Valentin Haüy und lieferte ihm den Beweis dafür, dass Blinde grundsätzlich bildungsfähig sind. Er hatte schon bemerkt, dass die blinden Bettler ihr Dankeschön ganz nach dem Wert der ihnen überreichten Münze richteten. Einmal musste er auf einem Jahrmarkt erleben, wie blinde Menschen zum Gespött der Menge gemacht wurden. Man gab ihnen Musikinstrumente in die Hand und ließ sie ein jämmerliches Konzert veranstalten. Man hieß sie Schaukämpfe und Wettläufe veranstalten und forderte sie auf, zu tanzen. Dabei lachte man sich den Buckel voll.

Haüy war über diese Würdelosigkeit so empört, dass er umgehend zur Tat schritt. Er nahm einen 6-jährigen Buben und einen 16-jährigen jungen Mann zu sich und unterrichtete beide jeweils täglich mehrere Stunden lang, wobei er ihnen die entgangenen Einkünfte großzügig ersetzte. 1786 hatte er bereits 12 Schützlinge um sich versammelt, die er in Versailles dem königlichen Hof vorstellte. Der Erfolg war so durchschlagend, dass man ihm die Errichtung eines Instituts für junge Blinde erlaubte. Sehr bald wurde das Institut in staatliche Obhut genommen.

Die Gründung des Instituts wurde bald beispielgebend für Europa. In vielen Ländern Europas wurden ähnliche Einrichtungen gegründet. Der Armenvater J. W. Klein gründete 1810 das Blindenerziehungsinstitut in Wien. Er ist für uns deshalb besonders interessant, weil er die erste wirklich brauchbare Tastschrift für Blinde schuf, die noch vor 70 Jahren in der Blindenschule München im Gebrauch war. Er machte die großen Druckbuchstaben tastbar, indem er längliche Bleiklötzchen gießen ließ, an deren Oberseite der Buchstabe tastbar war und an der Unterseite mit Nadeln dargestellt wurde. Sie wurden in das auf einer Filzplatte ruhende Papier eingedrückt. Im zweiten Schuljahr habe ich diese Schrift noch gelernt. Klein-Schrift oder Stachelschrift wurde dieses System genannt. So standen die Dinge, als Louis Braille die Szene betrat.

Etwa 40 km östlich von Paris liegt das Dörfchen Coupvray. Es schmiegt sich an einen Steilhang und ist von hügeligem Gelände umgeben. Das ganze Tal wird von einem prächtigen Schloss beherrscht. Von dort aus bietet sich dem Auge ein herrliches Panorama. Hier siedelte sich 1750 der Großvater Louis Brailles mit seiner Familie an und eröffnete eine Sattlerwerkstatt. 1782 wurde sie von seinem Sohn Simon René übernommen, der bald als tüchtiger und geschickter Handwerker galt und hohes Ansehen genoss. 1792, mitten in den Wirren der Revolution, heiratete er Monique Baron. Die Revolution scheint an diesem Örtchen spurlos vorübergegangen zu sein, denn man war erzkonservativ, strenggläubiger Katholik und hing fest am alten Königshaus. Vater Braille brachte es zu bescheidenem Wohlstand. Er besaß neben der Werkstatt zwei Häuser und eine kleine Landwirtschaft. Seine Existenz war also gesichert.

Vier Kinder wurden dem Ehepaar geboren. Am 04.01.1809 kam Louis als Nachzügler auf die Welt. Die älteste Schwester war 15, der Bruder 14 und die zweite Schwester 11 Jahre älter. Louis war so zart und schmächtig, dass man um sein Überleben fürchtete. Wider alles Erwarten wächst das Kerlchen heran und verspricht, ein helles Köpfchen zu werden. Kaum, dass er sich auf seinen Beinchen alleine fortbewegen kann, zieht ihn der Ledergeruch magisch in Vaters Werkstatt, wo er seinem Vater bei der Arbeit zuschaut und hingebungsvoll mit Lederstückchen spielt.

Drei Jahre ist er alt, als das Unglück geschieht. Es gelingt ihm, unbeaufsichtigt in die Werkstatt zu schlüpfen. Auf der Werkbank, etwa in Gesichtshöhe des Kleinen, entdeckt er ein scharfes, zweischneidiges Rebmesser, wie man es zum Lederschneiden braucht. Ein Stück Leder ist auch bald gefunden. Nun möchte man das Leder zerschneiden, aber es leistet heftigen Widerstand, und die kleinen Händchen haben zu wenig Kraft. So kommt, was kommen muss. Das Messer fährt ins Auge. Mit blutüberströmtem Gesicht und schreiend vor Schmerz finden ihn die herbeigeeilten Eltern und Nachbarn. Eine als kräuterkundig geltende Nachbarin bringt Lilienwasser herbei und legt dem Verunglückten einen kalten Umschlag aufs Auge. Tatsächlich kommt die Blutung zum Stillstand, und man möchte schon an ein Wunder glauben, doch die Freude währt nicht lange. Bald stellt sich eine Bindehautentzündung ein. Das Auge wird rot, das Lid blau. Der herbeigerufene Arzt kann nicht helfen. Hier ist übrigens interessant, was der damals hochaktuelle medizinische Ratgeber des Dr. Turck empfiehlt: Kein Licht ins Krankenzimmer lassen, kalte Umschläge auflegen, Aderlassen am Oberarm durchführen, Blutegel rund um das verletzte Auge ansetzen und strengste Diät. Es kommt zu einer eitrigen Augenentzündung, die bald auf das andere Auge übergreift. Ein dunkler Schleier legt sich auf beide Augen, der von Tag zu Tag undurchdringlicher wird. Schließlich ist das Kind blind. Man merkt es daran, dass es beim Gehen an Möbel stößt und nicht mehr wahrnehmen kann, wo das Fenster ist. Man bringt ihn ins Spital nach Meaux. Der Augenarzt kann nur noch die Zerstörung der Hornhaut feststellen.

Einer meiner Schulkameraden war ein Bauernbub. Bei der Feldarbeit stach er sich mit der Mistgabel ins Auge. Weil die Eltern nicht sofort handelten, wurde er auch auf dem anderen Auge blind. Wäre das verletzte Auge sofort entfernt worden, hätte das andere Auge vielleicht gerettet werden können.

Ob das im Fall Braille auch so gewesen ist, wer weiß? Einer seiner Biographen muss wohl ein Sehender gewesen sein, denn er schildert ausführlich, wie traurig der Bub darüber war, dass er das Bächlein nur noch rauschen hören, aber nicht mehr sehen konnte. Die Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit mag ihn sicher mehr bedrückt haben. Mir scheint, das Phänomen Auge ist mit allzuviel Ästhetik belastet.

Ich war 16, als mein Vater mich über meine Blindheit hinwegtrösten wollte. „Woischt, 's isch net alles schee auf der Welt, was mer sieht“, meinte er. Ich antwortete darauf höchst prosaisch: „Schön oder nicht schön spielt für mich keine Rolle. Ich möchte sehen können, damit ich auch vom Blatt spielen kann, wie andere Musiker. Ich möchte allein hingehen, wohin ich will, ohne jemand bitten zu müssen“. „Desch'd a saudomms G'schwätz“, war die hilflose Antwort. Da hatte ich meinen Tee.

Nun, Louis findet sich bald im Haus zurecht, rennt treppauf und treppab. Bald danach kennt er sich auch im Dorf gut aus. Der Vater hat ihm einen Stock gemacht, damit er Hindernissen besser ausweichen kann. Inzwischen ist auch sein Gehör so geschärft, dass er jeden an der Stimme erkennt. Er muss ein sehr freundliches Kind gewesen sein. Wenn er vor dem Haus sitzt, grüßt er alle Vorüberkommenden. Alle haben ihn ins Herz geschlossen, auch der Schlossherr und seine Gemahlin. Zuhause lernt er, den Tisch zu decken und Sättel mit Wachs polieren, später auch Fransen für die Verzierung schneiden.

Das Jahr 1814 bringt auch für den kleinen Louis einen schweren Rückschlag. Napoleons große Armee ist besiegt. Die geschlagenen Truppen fluten zurück und kommen auch durch das Dorf. Die Sieger drängen nach. Die Gemeinde muss für die Versorgung der Soldaten aufkommen und gerät dadurch schier an den finanziellen Ruin. Man bekommt Einquartierung. Kurz, jeder hat den Kopf voll mit schweren Sorgen, keiner kann sich über das allernötigste Maß hinaus um den kleinen Louis kümmern, der sich auch prompt in sich verkriecht. Er hat Angst vor den vielen fremden rohen Lauten.

Da ist es gut, dass 1815 Abbé Palu als neuer Pfarrer nach Coupvray kommt. Er ist ein sehr gebildeter Mann, versteht sich gut mit den einfachen Leuten und schätzt ihren Fleiß und ihren gesunden Menschenverstand. Er nimmt sich auch gleich des verstörten blinden Buben an. Es gelingt ihm, ihn wieder für die Dinge dieser Welt zu interessieren. Neugier und Wissensdurst erwachen wieder. Was er an religiösen Werten mitbekommt, wird ihn lebenslang begleiten, nämlich Nächstenliebe, Güte und Bescheidenheit.

Ein Jahr darauf kommt Herr Bescheret als neuer Lehrer nach Coupvray. Er entdeckt die überdurchschnittliche Begabung Brailles. 2 Jahre lang besucht dieser die Dorfschule. Mit auf Holz befestigten Tapeziernägeln stellt der Vater ihm die Buchstaben dar. Im Kreis seiner sehenden Kameraden lernt er ganz allmählich wieder lachen und fröhlich sein.

Ganz allmählich wächst bei den Eltern die Sorge, was aus ihrem Sohn einmal werden soll. Kann er ein Handwerk lernen, mit dem er sich durchs Leben bringt? Da fällt Monsieur Beschdet ein, dass er während seiner Studienzeit in Paris einmal von Valentin Haüy und seinem Institut für junge Blinde etwas gehört hat. Man holt sich Rat beim Schlossherrn. Der war damals dabei, als Valentin Haüy in Versailles mit seinen Schülern so großen Erfolg hatte. So ist er denn auch gleich bereit, an das Institut zu schreiben. Adelige Empfehlung hatte damals noch großes Gewicht. Bald kommt denn auch günstiger Bescheid aus Paris, aber die Eltern brauchen Zeit. Freilich soll der Bub was lernen, aber ihn so weit weggeben, fällt doch schwer. Als dann noch ein Stipendium in Aussicht gestellt wird, greift man schnell zu. So fahren Vater und Sohn am 15.02.1819 nach Paris.

Paris ist eine aufgeregte Stadt voller Hektik. Man hängt noch sehr an der alten Kaiserpracht. Das Haus Bourbon hat es schwer, seinen alten Einfluss zurück zu gewinnen. Der Lärm der Stadt beunruhigt den Kleinen sehr. Schließlich steht man vor dem Institut. Es ist ein hohes, schmales Gebäude mit langweiligen grauen Mauern. Aus dem Torbogen weht Louis ein kühler Hauch entgegen. Mit der Hand streicht er an der eiskalten Mauer entlang und erschauert. Er begreift, was er verliert. Den Nutzen kann er vielleicht nur ahnen. Der Schuleintritt ist für jedes Kind ein einschneidendes Ereignis im Leben. Wie viel mehr trifft das für den Eintritt ins Internat zu

Ich bin ja schon mit sechs Jahren ins Internat gekommen und weiß ein Lied davon zu singen, wenn ich auch heute weiß, dass es eine Sternstunde für mich war.

Die Unterredung mit Dr. Guilly, dem Direktor, verläuft äußerst herzlich. Der Vater geht getrost nach Hause.

Louis hinterlässt den besten Eindruck und wird in den Schulraum geführt. Dort ist gerade Geographiestunde. Der Lehrer erzählt so spannend, dass sich alle Angst anscheinend verliert. Louis gibt gute Antworten, sodass auch der Lehrer tief beeindruckt ist. Im Bett allerdings weint er.

„Kenn' ich, hab auch schon“, kann ich da nur sagen.

Der Bettnachbar Guthier tröstet ihn. Das ist der Anfang lebenslanger Freundschaft. Er mag ihm wohl auch dabei geholfen haben, sich im Haus zurechtzufinden. Ein Biograf behauptet, er hätte die Schritte gezählt.

Als ich als Knirps mit sechs Jahren ins Internat kam, konnte ich wahrscheinlich gar nicht soweit zählen. Bei mir hieß es, möglichst immer an der Wand lang, im Schlafsaal die Betten mit der Hand abzählen. Im Übrigen war es für die „alten Hasen“, die schon ein Jahr in der Anstalt waren, Ehrensache, dass jeder einen Neuen unter seine Fittiche nahm.

Wochen vergehen, Louis hat keine Zeit mehr für Heimweh. Von zuhause kommen gute Nachrichten. Die Briefe werden vom Aufseher vorgelesen.

Wenn ich von zu Hause Post bekam, war ich immer erstaunt darüber, wie der Aufseher beim Vorlesen stotterte. Erst allmählich begriff ich, dass es so was wie eine persönliche Handschrift, auch Klaue genannt, gibt.

Louis hat Freude am Unterricht. In einem Bericht heißt es: „Dank seiner geistigen Regsamkeit war er bald in die Anfangsgründe von Geographie, Grammatik, Geschichte und Rechnen eingeweiht.“

Wie wird gelernt? Nach der Papageienmethode, wie heute noch an den Koranschulen. Zwar gab es schon die Haüysche Reliefschrift. Buchstaben aus Holz wurden auf dünnen Stoff geklebt. Einige Bücher sind vorhanden und leisten gute Dienste. Doch sind sie unförmig und schwer. Ein dünnes Schulbuch hat bereits mehrere Bände. Das Lesen ist mühsam und zeitraubend. Für Leute mit unterentwickeltem Tastsinn ist es gar unmöglich.

Louis zeigt bald besonderes Interesse für Musik. Lehrer des Konservatoriums unterrichten kostenlos. Es wird nach Gehör unterrichtet, notfalls die Hand geführt. Fortgeschrittene unterrichten Anfänger. Das habe ich als Klavieranfänger noch selbst erlebt. Beim Üben muss ein veritables Chaos geherrscht haben. Es gab nur einen Musikraum. Einer saß in der Fensternische und blies auf der Flöte. In einer Ecke quälte ein anderer die Klarinette. Ein Dritter traktierte das in der Mitte auf einem Podest stehende Klavier. Wie da aus Louis Braille später ein Organist werden konnte, ist mir schleierhaft.

Vielleicht ist hier der Ort, einige Anmerkungen zu „Blindheit und Musik“ einzuflechten. Es gab Leute, die meinten, mindestens dem blind Geborenen sei die Musik quasi als Ausgleich vom Schicksal in die Wiege gelegt worden. Dem ist natürlich nicht so. Weil das Auge keine Signale aus der Umwelt mehr übermitteln kann, werden diejenigen, die das Ohr anbietet, besser wahrgenommen.

Während meines Internatsaufenthalts tönte in der Freizeit aus jedem Klassenzimmer der Klang eines anderen Instruments. Der eine übte Zither, der andere Akkordeon, der Dritte Klavier, und aus der Anstaltskapelle klang Orgelmusik. Kein Wunder, dass man da Lust bekam, auch ein Instrument spielen zu lernen. Ohne diese vielfältigen Anregungen wäre ich wohl nie Musiker geworden.

Doch wieder zurück zu Louis Braille. Das Institut geriet nach und nach in immer größere wirtschaftliche Nöte. Es fanden sich immer weniger Geldgeber. Personal musste entlassen werden. Um die Ordnung dennoch aufrecht zu erhalten, wurden strenge Strafen eingeführt. Einen sehenden Missetäter sperrte man in die Dunkelzelle. Da das beim blinden Delinquenten unwirksam ist, setzt man ihn auf Wasser und Brot oder unterwirft ihn körperlicher Züchtigung. Braille hat sicher auch davon abbekommen, denn er liebt Streiche und Scherze.

Jede Woche einmal wurden die Zöglinge in einen öffentlichen Garten geführt. Der Aufseher ging vorneweg, die Zöglinge folgten im Gänsemarsch hinterher, wobei sie sich am Strick festhielten. Das setzte natürlich viele mitleidige Blicke. Bis kurz vor meinem Schuleintritt wurde diese Methode in München noch praktiziert.

Das Schuljahr geht zu Ende. Braille erhält bereits einen Preis, ein Paar Pantoffeln. Zwei Monate Ferien. Der Bub hat viel zu erzählen.

Nach den Ferien macht er so große Fortschritte, dass er bald in die Oberstufe versetzt werden kann.

Szenenwechsel. Monsieur Barbier ist Artilleriehauptmann im Heer Ludwigs XVIII. Die Befehlsübermittlung bei Nachtübungen ist sein Problem. Ihm geht es darum, dass die Befehle auch im Dunkeln gelesen werden können, denn durch Licht verrät man ja dem Gegner unter Umständen seine Stellung. So ersinnt er eine Nachtschrift, auch Sonografie genannt. Mit einer besonderen Maschine werden Punkte und Linien in Karton eingestanzt. Man kann damit ganze Sätze schreiben, aber nur Silben.

Am 28.06.1819 legt er sein System der Akademie der Wissenschaften vor. Dort findet er zunächst wenig Interesse. Um der Form zu genügen, werden zwei Berichterstatter gewählt, die nach einem Jahr ein Gutachten vorlegen. Es ist eine langweilige wissenschaftliche Abhandlung, aber ein Satz ist doch wichtig für uns. Es wird nämlich festgestellt, dass mit Hilfe dieser Schrift evtl. eine Verständigung zwischen Tauben und Blinden möglich sei. Nun will Barbier sein Verfahren den Blinden dienstbar machen. Er legt es also dem Leiter des Instituts für junge Blinde vor und ist enttäuscht. Statt der erwarteten hellen Begeisterung wird ihm nur eine gründliche Prüfung seines Systems versprochen. Die allerdings findet auch bald statt. Alle Schüler und Lehrkräfte werden zusammengerufen. Das System wird eingehend erläutert, und Schriftproben werden verteilt. Braille ist hell begeistert. Punkte statt Buchstaben. Das ist die Lösung! Das System wird als Nebenfach eingeführt.

Für die beiden Freunde ist bald alles klar. Der Aufbau ist sehr kompliziert, die Probleme beim Schreiben liegen auf der Hand. Inzwischen gibt es einschneidende Veränderungen im Institut. Direktor Guillé wird entlassen. Er soll ein Verhältnis mit einer am Institut angestellten Lehrerin angefangen haben. So streng waren damals die Sitten! Er galt als hochmütig und ehrgeizig. 1817 hatte er Valentin Haüy aus dem Institut hinausgeworfen. Sein Nachfolger wird Monsieur Pignier, ein sehr aufgeschlossener Mann. Eine seiner ersten Amtshandlungen ist, dass er eine Feier für den eben arm und verbittert aus Russland heimgekehrten Valentin Haüy organisiert. Dabei wird alles aufgeboten, was das Institut zu bieten hat. Es wird gesungen, musiziert, es werden Gedichte vorgetragen. Es muss eine ergreifende Feier gewesen sein. Auch Louis Braille darf ihm die Hand schütteln. Haüy wird ihm zum großen Vorbild.

Inzwischen hat Braille an Barbiers System einige Verbesserungen angebracht und soll sie nun dem Erfinder gegenüber vertreten. Das muss man sich nun auf der Zunge zergehen lassen, wie die beiden sich da gegenübersitzen! Auf der einen Seite der 55-jährige schnauzbärtige Hauptmann. Seiner herrischen Stimme merkt man an, dass er gewohnt ist, Befehle zu erteilen. Auf der anderen Seite der 13-jährige schmächtige und schüchterne blinde Bub. Zwar sieht der Herr Hauptmann ein, dass Braille Recht hat, kann das aber nicht zugeben, weil das sein Stolz und sein Offiziersehrbegriff nicht zulassen. Er mag sich gedacht haben: „Da will man mal was für die Blinden tun, und anstatt diese sich nun auf Knien bedanken, darf man sich von so einem Lausebengel schulmeistern lassen.“ So mag er den Buben wohl entsprechend abgekanzelt haben, denn Braille ist am Schluss ganz verschüchtert und schweigt.

Anstatt zu resignieren, wird diese Begegnung für Braille zum Beginn schöpferischer Arbeit. Weil er die Schule nicht vernachlässigen will, geschieht diese Arbeit vor allem nachts. Meist gönnt er sich kaum mehr als 2 Stunden Schlaf. Damit aber hatte er wohl die Grundlagen für seine spätere Krankheit geschaffen.

Inzwischen schreiben wir das Jahr 1824. Wieder einmal sind Ferien. Braille sitzt auf Straßenböschungen und hantiert emsig mit Tafel und Stift und rechnet und grübelt. Die Leute bleiben stehen und gucken erstaunt. Manche machen wohl auch spöttische Bemerkungen. Doch im Oktober, noch kurz vor Schulbeginn, hat er es geschafft. Er verringert die Zahl der Punkte auf 6, die er in 2 senkrechten Dreierreihen anordnet. 63 Zeichen kann er daraus gewinnen. Alle Buchstaben, Zahlen, Satz- und mathematischen Zeichen sowie Musiknoten lassen sich damit darstellen.

(2)

Brailles Schrift ist derjenigen Barbiers haushoch überlegen. Ähnliches, wenn auch in abgeschwächter Form, gilt auch für die nach ihrem Erfinder J. W. Klein genannte Klein-Schrift oder Stachelschrift. Das Schreiben ist mühsam und zeitraubend. Auch wird keinesfalls die Lesegeschwindigkeit erreicht, die bei der Punktschrift möglich ist. Die Schrift als solche ist leicht zu erlernen, wenn auch das Lesen mit den Fingern dem ungeübten Tastsinn einige Schwierigkeiten bereitet. Einer meiner ehemaligen sehenden Lehrer sagte immer: „Eure Blindenschrift ist ein schlechtes Augenfutter.“ Neulingen mit Sehrest wurden deshalb die Augen verbunden, damit sie sich dieselben nicht noch mehr verderben würden. Zunächst liest sich's mit den Augen leichter als mit den Fingern.

(3)

15 Jahre alt ist Braille, als er sein System den Lehrern vorlegt. Bald ist das ganze Institut damit vertraut. Auch der Direktor ist hell begeistert. Nun konnte man sich Notizen machen, nach Diktat schreiben und eigene Gedanken zu Papier bringen. Jedes Jahr erhält Braille Preise. Mit 16 ist er Vorarbeiter in einer Werkstatt, in der Pantoffeln hergestellt werden.

1826 erhält er einen Lehrauftrag für Grammatik, Algebra und Geographie. In diesem Jahr beginnt er mit dem Orgelstudium und unterrichtet nebenbei Zöglinge im Klavierspiel. 1828 schafft er die Notenschrift.

Hier scheint eine kurze Erklärung angebracht. Unsere Notenschrift ist für den Sehenden ein Buch mit 7 Siegeln. Seine Schrift ist dem Auge angepasst. Er kann mit einem Blick eine ganze Seite übersehen. Unsere Notenschrift hingegen muss sich auf den tastenden Finger einstellen, der ja nur den kleinen Raum der sechs Punkte erfassen kann. Daher schreiben wir ein Musikstück nicht untereinander, sondern nacheinander auf. Ein Klavierstück beispielsweise gliedern wir in kurze Abschnitte, bei denen erst die Noten der rechten Hand, anschließend diejenigen der linken Hand dargestellt werden. Durch genaues Zählen müssen die Noten untereinander gebracht werden. Das kann zwar mitunter recht mühsam sein, aber man kann sich selbstständig jedes Musikstück erarbeiten, und das ist viel, viel Wert!

Doch wieder zurück zu unserem Thema. 1829 liegen bereits einige Bücher in Punktschrift vor, darunter eine Grammatik von Chapal, die Josefsgeschichten u. a. m. Im gleichen Jahr verfasst Braille ein Lehrbuch für Notenübertrager. Im Vorwort erkennt er rückhaltlos Barbiers Leistung an und erklärt ausdrücklich, dass seine Erfindung ohne dieselbe unmöglich gewesen wäre. Jede Art von Eitelkeit ist ihm völlig fremd. Das Los seiner Kameraden erleichtern, das war alles, was er wollte. Er wollte möglichst unbemerkt bleiben.

Am 08.08.1829 wird er zum Hilfslehrer ernannt. Grammatik, Geographie und Rechnen soll er unterrichten. 20 Jahre alt ist er inzwischen. Seine umfassende Bildung verschafft ihm völlige Sicherheit im Unterricht. Er ist pädagogisch sehr befähigt, äußerst gewissenhaft, hat viel Geduld und straft selten. Vor allem aber weiß er, die Aufmerksamkeit seiner Schüler zu fesseln. Die Ernennung bringt ihm wenig Vorteile. Nach wie vor trägt er die Schüleruniform, bestehend aus schwarzer Hose und schwarzem Rock. Nur die aufgenähte Goldstickerei am Revers kennzeichnet den Lehrer. Er darf auch weiterhin ohne Genehmigung keine Besuche empfangen und das Institut nicht verlassen. Auch seine Briefe werden weiterhin zensiert. Sehr wichtig für ihn ist aber, dass er ein eigenes Zimmer zugewiesen bekommt. Der liberale Direktor fördert seine blinden Lehrer, wo er nur kann, und leistet ihnen Beistand mit Rat und Tat. Er führt sie in gesellschaftliche Kreise ein.

Braille ist die mondäne Atmosphäre fremd. Am meisten freut er sich, wenn man ihn ans Klavier bittet. Er hat eine besondere Vorliebe für die Meister der Wiener Klassik. Im Übrigen ermüdet ihn die Gesellschaft. Im Beifall wittert er unerwünschtes Mitleid. Am wohlsten fühlt er sich in der Stille seiner Klause.

Am 31.05.1831 stirbt sein Vater. Direktor Pignier wird ihm zum väterlichen Freund. Anfang 1833 beendet er sein Studium und wird Organist an St. Nicolas de Champs. Im gleichen Jahr wird er zum Lehrer ernannt mit 300 Francs Jahresgehalt. Er geht in Beruf und Forschung ganz auf und empfindet so richtig Freude am Leben. 1834 darf er bei einer Gewerbeausstellung sein System vorführen und erntet die Anerkennung des Königs.

Er verbraucht sich rasch. 1835 melden sich erste Krankheitsanzeichen mit Atemnot, Schwindel und Fieber. Des  Öfteren muss er den Unterricht unterbrechen. Trotzdem glaubt er nicht an eine schwere Krankheit. Weiterhin bewältigt er ein großes Arbeitspensum. Bald darauf stellt sich ein Blutsturz ein. Der Arzt diagnostiziert eindeutig Lungentuberkulose. Direktor Pignier kümmert sich aufopfernd um ihn. Er verringert sein Arbeitspensum, teilt ihm nur Fächer zu, wo er wenig sprechen muss und wenig Vorbereitung braucht. Er ist, wie für diese Krankheit typisch, häufigen Stimmungsschwankungen ausgesetzt. Trotz Verbot setzt er seine Forschertätigkeit fort.

Nach und nach setzt eine Periode der Kämpfe ein. Zunächst ist es Barbier, der sich 1827 bitter darüber  beklagt, dass sein System so verschandelt worden sei. 1833 kann er nicht umhin, Braille zu seiner Erfindung zu gratulieren. Trotzdem kann er es nicht verwinden, dass sein System nicht zum Zuge kam, und mag sich entsprechend verhalten haben. Am 29.04.1841 stirbt Barbier im Alter von 74 Jahren.

Etwa ab Mitte der Dreißiger Jahre ist man bemüht, beim Ministerium die offizielle Anerkennung des Brailleschen Punktschriftsystems zu erwirken. Dort stößt man aber auf taube Ohren, denn man will nur das längst überholte Haüysche System gelten lassen. Direktor Pignier macht eine Eingabe nach der anderen, erhält aber keine Antwort. Als Braille persönlich an das Ministerium schreibt, ergeht es ihm nicht anders. Keinerlei öffentliche Anerkennung noch Auszeichnung erhält er. Stattdessen ist er immer wieder Schikanen öffentlicher Ämter ausgesetzt.

1840 ergeht endlich Bescheid des Ministeriums. Man solle den jungen Mann ermutigen, aber sonst gefälligst alles beim Alten lassen.

Ab 1836 gibt es Querelen im Institut. Vizedirektor Dufau möchte seinen Chef beerben. Er schickt deshalb einen Bericht ans Ministerium, worin er Pignier beschuldigt, den Geschichtsunterricht zu missbrauchen, um den Schülern die Köpfe zu verdrehen. 1840 bringt die Intrige Monteur Dufaus den gewünschten Erfolg. Pignier muss gehen. Dufau wird sein Nachfolger. Braille verliert seinen väterlichen Freund. Stattdessen beginnt mit Dufaus Amtsantritt für ihn eine raue Schule des Kampfes. Zwar tritt er ihm persönlich nicht feindselig gegenüber, aber in den Veröffentlichungen des Instituts wird seine Erfindung totgeschwiegen. Dufau geht sogar noch einen Schritt weiter. Er verbietet kurzerhand den Gebrauch der Punktschrift bei Strafe. Alle vorhandenen Punktschriftbücher werden verbrannt. Auch Haüys System wird verändert. Die Buchstaben werden vergrößert. Die Schüler müssen umlernen.

Er hat aber auch Positives geleistet. Nach zähem Ringen erwirkt er den Neubau des Instituts. Ärzte klagen schon lange darüber, dass das alte Gebäude mit seinen feuchten, zugigen Räumen ein Tuberkuloseherd sei, und warnen vor dem Ausbruch einer Seuche.

1841 erhält Braille eine Einladung nach Wien. Dort soll er einen blinden Prinzen aus dem Hause Habsburg unterrichten. Aus gesundheitlichen Gründen muss er jedoch absagen. Er schreibt aber an J. W. Klein und stellt ihm in aller Bescheidenheit sein neues System vor, erhält aber keine Antwort, was er mit stoischer Ruhe erträgt. Aus der Sicht Kleins wirft Brailles Erfindung glatt alles über den Haufen. Er beharrt auf den Buchstaben der Sehenden und will nicht einsehen, dass die Buchstaben zu groß für den lesenden Finger sind und deshalb keine annähernd normale Lesegeschwindigkeit erreichbar ist.

Ähnliche Erfahrungen hat man übrigens zu Beginn des Computerzeitalters gemacht. Um die erforderlichen PC-Zeichen sowie Großschreibung in einem Feld unterzubringen, hat man die 8-Punkte-Schrift entwickelt. Für denjenigen, der sie nur kurzzeitig benutzt und auf schnelles Lesen nicht unbedingt angewiesen ist, mag sie durchaus hilfreich sein. Die größere Lesegeschwindigkeit und somit auch das größere Lesevergnügen erlangt man aber nach wie vor mit den 6 Punkten, weil das 8-Punkte-Feld für den lesenden Finger schon fast zu groß und deshalb nicht so schnell erfassbar ist.

Es scheint angebracht, hier einmal die Argumente aufzuzählen, die aus der Sicht der meisten sehenden Lehrer gegen Brailles Punktschrift sprachen:

Man hatte Angst, die Blinden könnten zu selbstständig werden. Sie sollten weiter Schützlinge bleiben und nicht versuchen, Partner sein zu wollen. (Kampf um Hausschlüssel nennt man das ja wohl in der Erziehungslehre). Man fürchtete, die Welt der Blinden könnte sich von der der Sehenden abschließen, wenn sie eigene Buchstaben benützt. Diese Argumente wirken noch bis zum Ende des Jahrhunderts nach.

1874 wird nach langem Ringen der Neubau eingeweiht. Indessen ist der Siegeszug der Brailleschen Punktschrift nicht mehr aufzuhalten. Immer mehr passiver Widerstand regt sich im Institut. Seit 1840 ist Monsieur Guadet Vizedirektor. Er ist Literat, kein Pädagoge, was in diesem Fall einmal sogar ein Glücksfall ist. Er interessiert sich sehr für Brailles Erfindung. So bitten ihn die beiden Freunde zu einem Experiment, Guthier verlässt den Raum. Monsieur Guadet diktiert Braille einen Text, der vom wieder hereingerufenen Guthier fließend abgelesen wird. Der Erfolg des Experiments überzeugt den Vizedirektor vollkommen. 1844 wird das Experiment vor großem Publikum wiederholt. Diesmal sind es zwei blinde Mädchen, mit denen es durchgeführt wird. Der Erfolg wird mit begeistertem Applaus quittiert. Nun geht man aber noch einen Schritt weiter. Ein Schüler wird hinausgeschickt, einem anderen eine Melodie diktiert. Der wieder Hereingerufene singt sie fehlerlos ab. Der begeisterte Applaus kennt keine Grenzen. Nun ist auch Direktor Dufau gewonnen. Brailles Punktschrift wird eingeführt.

Doch die anhaltenden Kämpfe, die Braille in den letzten Jahren durchstehen musste, führen zu erneuter Erkrankung. Jetzt begreift er den Ernst seiner Lage. Er verteilt sein Vermögen an die Armen, unterstützt Blinde mit Schreibtafeln, lässt sie gegen Bezahlung abschreiben. Es wird ihm ein 3-monatiger Landaufenthalt verordnet.

Noch einmal stellt sich Besserung ein. Drei Jahre lang kann er noch einmal wieder unterrichten. Seit 1846 wird seine Notenschrift im Unterricht verwendet. 1849 wird die erste Druckmaschine für Punktschrift in Dienst gestellt. Braille hat neue Ideen. Er möchte eine Schrift schaffen, die von Blinden und Sehenden gelesen werden kann. Doch ein erneuter Ausbruch verhindert die Realisierung.
Diesmal ist die Krankheit nicht mehr aufzuhalten. Im Dezember 1851 erfolgt ein heftiger Blutsturz, und am 06.01.1852 stirbt er.

Durch seine einmalige Leistung hat Louis Braille den blinden Menschen das Tor zu Literatur und Kultur aufgestoßen. Trotzdem wurde er von seinen Zeitgenossen weitgehend verkannt. Nur Angehörige und Freunde nehmen Notiz von seinem Tod. 100 Jahre später werden seine sterblichen Überreste ins Pantheon überführt.

Inzwischen ist die Brailleschrift weltweit anerkannt. Bis dahin war es aber noch ein weiter Weg. Erst 1878 wurde sie nach langem und zähem Widerstand in Deutschland eingeführt. Da einige blinde Musiker schon jahrelang mit Brailles System gearbeitet hatten und es mit seiner Hilfe zu allgemeinem Ansehen brachten, ist diese Borniertheit aus heutiger Sicht völlig unverständlich.

In jedem Land gibt es sprachlich bedingte Sonderzeichen. So haben wir in Deutschland besondere Zeichen für CH und SCH sowie für alle Doppellaute. Um Platz zu sparen und die Lesegeschwindigkeit zu erhöhen, gibt es eine spezielle Kurzschrift. Das Regelwerk ist so gut durchdacht, dass Verwechslungen beim Lesen ausgeschlossen sind. Daneben gibt es aber auch eine Stenografie, die natürlich freizügiger ist. Mathematik-, Chemie- und Schachschrift runden die Palette ab.

Trotzdem sind unsere Bücher sehr viel umfänglicher als die der Sehenden. So hat das Neue Testament, das es für die Sehenden als Taschenbuch gibt, bei uns 8 Bände. Daher sind wir froh, dass es noch die Möglichkeit gibt, Blindensendungen bis zu 7 kg portofrei zu verschicken.

Dank Brailles Großtat stehen uns viele Bildungswege offen. Wenn auch die Zahl der Berufsmöglichkeiten nicht sehr groß ist, so arbeiten doch Blinde als Telefonisten und in anderen Büroberufen, als Masseure, Musiker, Journalisten, Verwaltungsbeamte, Juristen, Lehrer und Dozenten. Schließlich arbeiten Blinde außer in den klassischen Blindenhandwerken wie Bürstenmachen und Korbflechten auch als Industriearbeiter.

Natürlich haben auch Blinde und Sehbehinderte unter der derzeit grassierenden Arbeitslosigkeit zu leiden. Bis unsereiner einen Job findet, muss er oft jahrelang gegen eine dicke Mauer von Vorurteilen anrennen.

In Deutschland gibt es 3 große Punktschriftbüchereien, wo man Bücher kostenlos ausleihen kann. Außerdem gibt es 4 Blindendruckverlage, wo Bücher käuflich erworben werden können. Die größte Einrichtung dieser Art ist in Leipzig. Ihr Bestand umfasst insgesamt 13.462 Titel mit 43.662 Bänden. Davon entfallen auf Belletristik 6.908, Kinderliteratur 2.375, Sachliteratur 4.379.
Dazu kommt ein großer Bestand an Musikalien. 2.256 Personen sind regelmäßige Nutzer der Bücherei. Jährlich werden etwa 50.000 Punktschriftseiten übertragen.

(4)

Gestatten Sie mir bitte noch ein kurzes Schlusswort. In Westeuropa braucht heutzutage kein Blinder mehr zu betteln, wenn er nicht ein notorischer Faulpelz ist, der das Mitleid der Sehenden schamlos ausnützt. In vielen Ländern der Dritten Welt ist das leider nicht so. Dort müssen die meisten Blinden noch vom Betteln leben. Dazu kommt, dass viel mehr Menschen jährlich erblinden als bei uns. Die Christoffel Blindenmission ist seit 100 Jahren damit befasst, das Elend wenigstens zu lindern. Die CBM will Blindheit vorbeugen und den bereits Erblindeten durch Ausbildung zu einer neuen Existenz verhelfen. Wenn man bedenkt, dass in den ärmste Ländern unserer Welt für ganze 5 EUR ein Mensch durch eine Operation vom Grauen Star geheilt werden kann, sollte es uns leicht fallen zu helfen. Bitte helfen Sie mit!

Danke fürs Zuhören.

  • (1) Habe das selbst erlebt mit einer hausierenden Zigeunerin, die bei meinem Anblick fluchtartig die Szene verließ.
  • (2) Braille-Alphabete werden verteilt.
  • (3) Tafelschreiben wird vorgeführt.
  • (4) Fragen können gestellt werden.

Literaturnachweis

  • Heimers: Louis Braille, sein Leben und sein Werk - Hannover, 1975
  • Kutzli: Leben und Werk von Louis Braille - Zürich, 1992
  • Roblin: Lesende Finger - Hannover, 1960
  • Streit: Louis Braille. Ein Blinder erfindet die Blindenschrift. Leipzig, 1999
  • Strehl: Zur Geschichte des Blindenwesens - Marburg, 1970
  • Golinski: Valentin Haüy - Hamburg, CBCB

Nachwort

Das Braille-Jahr bietet eine einmalige Chance für unsere Öffentlichkeitsarbeit. Braille und Haüy sind kulturgeschichtlich interessante Persönlichkeiten und verdienen größere Beachtung in der Gesellschaft. Deshalb sollten landauf landab entsprechende Vortragsveranstaltungen stattfinden. Jeder engagierte Punktschriftleser mag sich überlegen, welchen Beitrag er dazu leisten könnte.

Mein Manuskript will zum Nach- und Bessermachen anregen. Indem wir des großen Erfinders der Blindenschrift gedenken, können wir auch uns und unsere Belange ins öffentliche Bewusstsein bringen.

Günther Schmohl

PS:

Das Buch von Golinski kann bei der CBFB in Hamburg, das von Streit bei der DZB in Leipzig entliehen werden. Alle übrigen aufgeführten Titel kann man sich von der SBS Zürich kommen lassen (Grubenstraße 12, CH-8045 Zürich).