Taubblinde und die Anwendung ihrer verschiedenen Kommunikationsformen

Die Ausführungen in diesem Kapitel erstrecken sich einerseits auf eine jüngere und andererseits auf eine ältere Generation von Menschen mit Usher-Syndrom/Taubblinden. Es ist häufig zu beobachten, dass beide Generationen unterschiedliche Bedürfnisse bei den Kommunikationsformen haben.

Ältere Generation der Taubblinden und ihre Kommunikationsformen

Die ältere Generation der Gehörlosen und somit auch die von Usher-Syndrom betroffenen Menschen erhielten im Zuge des Mailänder Lehrerkongresses um 1880 eine lautsprachlich orientierte Schulbildung. Sie hatten nur einen inoffiziellen Zugang zur Gebärdensprache, denn diese wurde jahrhundertelang öffentlich unterdrückt und verboten. Die älteren taubblinden Menschen besitzen daher eher eine niedrigere Gebärdensprachkompetenz, im Gegensatz zu jüngeren taubblinden Menschen von heute.

Bei Unterhaltungen mit voll sehenden Gehörlosen benutzen die älteren Taubblinden die Gebärdensprache und wünschen sich, dass der Partner in die Hand lormt. Aus verschiedenen Gründen entscheiden sich ältere Taubblinde häufig gegen Taktiles Gebärden. Vermutlich haben sie ein Abfühlen der Gebärdensprache wenig trainiert. Hinzu kommt, dass Gebärdensprachen sich regional unterscheiden und es verschiedene Dialekte mit unterschiedlichen, verwechselbaren Gebärden gibt. Diese taktil gebärdet zu verstehen, kann eine Herausforderung sein.

Ältere Taubblinde bei der Anwendung des taktilen Fingeralphabetes im westlichen Teil von Deutschland

Während der Nachkriegszeit kannten die Taubblinden im westlichen Teil von Deutschland noch kein Fingeralphabet. Erst zwischen den 70er und 80er Jahren verbreitete sich das amerikanische System des Fingeralphabetes in der Bundesrepublik Deutschland. Viele der von Usher betroffenen Taubblinden wuchsen deswegen nicht mit dem Fingeralphabet auf und erlernten das taktile Abfühlen des Alphabets erst spät.

Ältere Taubblinde bei der Anwendung des taktilen Fingeralphabetes im östlichen Teil von Deutschland

Im Gegensatz zum westlichen Teil von Deutschland erlernten die Taubblinden in Potsdam-Babelsberg schon vor Beginn des 18. Jahrhunderts das Riemannsche Handalphabet. Laut Broschüre der Taubblindenarbeit übernahm der Lehrer Gustav Riemann 1891 die Aufgabe, die Taubblinden in der Taubblindenschule in Potsdam-Babelsberg zu unterrichten. Während er die Taubblinden im Lesen und Schreiben der Blindenschrift unterrichtete, entwickelte er aus verschiedenen Handalphabeten, die bis dahin von sehenden Gehörlosen benutzt wurden, wie das Riemannsche Handalphabet für Taubblinde.

Ältere Taubblinde bei der Anwendung von Lormen

Den lautsprachlich erzogenen und später erblindeten Gehörlosen wurde Lormen während Rehabilitationsmaßnahmen z. B. im Taubblindenheim oder Taubblindenwerk beigebracht. Das Lorm-Tastalphabet hat eine lange Tradition und hat sich bei vielen Menschen bewährt. Die lautsprachlich orientierte Erziehung prägte viele der älteren Taubblinden stark. Sie bevorzugen deswegen Lormen als Kommunikationsform.

Jüngere Taubblinde und die Anwendung ihrer Kommunikationsformen

Jüngere Taubblinde bei der Anwendung der taktilen Gebärdensprache

Die von Usher-Syndrom betroffenen jüngeren Taubblinden, die früher noch gutes und vorhandenes Sehvermögen hatten und später erblindeten, erlebten den Umbruch in den 90er Jahren mit. Damals kämpften Landes- und Gehörlosenverbände und der Deutsche Gehörlosenbund um die politische Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache als vollwertige Sprache.
Die Grundlage dafür war die Erforschung der Gebärdensprache ab den 80er Jahren durch das Hamburger Zentrum für Gebärdensprache und Kommunikation unter Leitung von Professor Sigmund Prillwitz. Die Erforschung der Gebärdensprache bestätigte, dass diese eine vollwertige und eigenständige Sprache ist. Von diesem Zeitpunkt an begannen sich die Gehörlosen von der jahrhundertelangen Unterdrückung durch lautsprachliche Erziehung zu befreien und die Gebärdensprache als ihre Muttersprache anzunehmen. Die Gebärdensprachkenntnisse der Gehörlosen, bzw. später erblindeten Gehörlosen, wurde durch diese Entwicklung enorm erweitert und vertieft.

Die taktile Kommunikation zwischen Gehörlosen und Taubblinden

Wenn beide Gesprächsparteien gebärdensprachlich orientiert sind, kann hier mit Taktilen Gebärden kommuniziert werden. Wichtig ist, dass keine Unsicherheit oder Berührungsängste zwischen beiden bestehen und der Kontext nachvollziehbar für den blinden Gesprächspartner ist.

Jüngere Taubblinde bei der Anwendung von Lormen

Jüngere Taubblinde haben häufig ein starkes Selbstbewusstsein und viele bevorzugen die Anwendung der taktilen Gebärdensprache. Einige lehnen auch eine alltägliche Anwendung von Lormen ab, weil es sie an die Unterdrückung durch die lautsprachliche Schulförderung (Oralismus) erinnert. Für gebärdensprachlich orientierte Taubblinde ist aufgrund mangelnder Schriftsprach-Kompetenz das Lorm-Alphabet keine Mutter- bzw. Alltagssprache, sondern viel mehr eine Kommunikationshilfe. Ganz ähnlich wie bei Gebärdenden, die das Fingeralphabet ab und zu anwenden.

Es gibt natürlich auch Ausnahmen unter den jüngeren Taubblinden. Einige haben durch lautsprachliche und gute Schulförderung hohe Schriftsprach-Kompetenz erworben und nutzen daher das System des Lorm-Alphabets.

Training des Tastsinnes

Den Tastsinn intensiv zu trainieren ist zeitaufwendig und erfordert viel Geduld und Konzentration bei Taubblinden. Taubblinde müssen Lormen auf der Handinnenfläche und den Fingerkuppen erkennen können. Der Tastsinn hat sich besonders bei lautsprachlich orientierten und schriftsprachkompetenten Taubblinden erst im Laufe der Lebenszeit ausgeprägt entwickelt. Sie sind in der Lage, bei längeren Unterhaltung mit Gesprächspartnern und längeren Übersetzungen das Lormen von der TBA aufzunehmen.

Es kann vorkommen, dass während eines Vortrags eine TBA mehrere Stunden lormt und die Konzentration bei Taubblinden nachlässt, da es hoher Aufmerksamkeit bedarf. Es ist auch für voll sehende Personen möglich, das Lorm-Alphabet zu lernen. Allerdings kann gerade das Abfühlen der Lormen eine Herausforderung sein und bedarf viel Zeit und Übung.

Kommunikation zwischen Gehörlosen und Taubblinden per Lormen

Die Kommunikation kann funktionieren, wenn der gehörlose Gesprächspartner des Systems des Lorm-Alphabets beherrscht und beide Gesprächsparteien gute Schriftsprach-Kompetenz haben. Falls der gehörlose Gesprächspartner weder Kenntnisse des Lormen noch ausreichende Schriftsprach-Kompetenz besitzt, muss eine TBA zur barrierefreien Kommunikation eingesetzt werden. Ohne diese verschiedenen Kommunikationsformen gäbe es für Taubblinde nur die Nacht der Sprachlosigkeit und die Gefahr einer Isolation wäre noch höher, als sie momentan bereits ist.