Braille international
Wie man in der Ferne punktet.
Ein Beitrag von Vivian Aldridge, Ausbildungskoordinator bei der Sehbehindertenhilfe Basel und Vertreter des Verbands für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik im Komitee der Brailleschriftkommission der deutschsprachigen Länder.
Zeit seines Lebens hat Louis Braille Frankreich nicht verlassen. Anders seine Schrift, die 1878 zur international verbindlichen Blindenschrift erklärt wurde. Die sechs Punkte sind universal und übersetzen auch Sprachen mit nicht lateinischen, sogar nicht alphabetischen Schriften.
Um es gleich vorwegzunehmen:
Für fast jede oft geschriebene Sprache auf der ganzen Welt gibt es auch eine Brailleschrift. In beinahe jedem Fall wird ein Zeichen, das wie unser D gelesen wird, auch mit unserem Brailleschrift-D (d) geschrieben, so auch auf Griechisch, Russisch, Arabisch und Hebräisch. Und die Brailleschriften für alle Sprachen werden von links nach rechts gelesen, egal wie die jeweilige Schrift der Sehenden läuft.
Natürlich heißt das nicht, dass jemand, der die deutsche Brailleschrift gut lesen kann, sofort Russisch oder Arabisch vorlesen könnte. Dafür haben diese Sprachen zu viele Buchstaben, die nicht Eins zu Eins mit deutschen Buchstaben vergleichbar sind. Was die Sache nicht gerade einfacher macht, ist, dass alle Sprachen mit denselben 64 möglichen Zeichen auskommen müssen, welche die sechs Punkte der Brailleschrift hergeben. So muss ein und dasselbe Zeichen in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Bedeutungen übernehmen.
Zum Beispiel: Für den Laut „tsch“ benötigt Deutsch vier Buchstaben, Russisch dagegen nur einen (siehe im PDF GW). Da Russisch kein Q hat, kann es in Braille das Zeichen, das in lateinischen Schriften für Q (q) steht, für „tsch“ verwenden. Das scheint etwas verwirrend. Dennoch, es gibt für die meisten Sprachen der Welt einen gemeinsamen Stamm von Zeichen, die fast überall für ähnliche Laute stehen.
Die Einheit verloren und wieder gerettet
Im ersten Vierteljahrhundert ihres Daseins erlebte die Brailleschrift auch in ihrer französischen Heimat eine Berg- und Talfahrt. Dann begann aber die Exportzeit. Schulen in Nachbarländern begannen, sich für das System zu interessieren und es für die eigenen Sprachen zu adaptieren. Zunächst wollten nicht alle bei den französischen Zeichen für das Grundalphabet bleiben. Es hat verschiedene Vorschläge gegeben, bei denen die Zeichen für die am häufigsten vorkommenden Buchstaben die wenigsten Punkte hatten. Was gut fürs Schreiben war, entpuppte sich allerdings als nachteilig beim Lesen, so dass diese Systeme wieder verschwanden (in den USA allerdings erst im 20. Jahrhundert).
So nahm man in den Ländern Westeuropas doch die französischen Zeichen und definierte nur diejenigen neu, die aufgrund der Unterschiede zur jeweiligen Landessprache nicht übernommen werden konnten. Für Deutsch benötigte man kein E mit Gravakzent, dafür ein ß und ein Ö. Damit war unter den westeuropäischen Sprachen schon einmal eine große Einheit hergestellt.
In Afrika und Asien waren es oft Missionare, die Blindenschulen gründeten und sich mit einer Vielfalt von Sprachen, zum Teil mit ganz anderen Alphabeten, beschäftigen mussten. Ihre Pionierarbeit wurde mit wenig überregionaler Absprache geleistet. So kam es, dass die Adaptierungen für sehr ähnliche – oder gar dieselben – Sprachen in verschiedenen Schulen auch verschieden ausfielen. Sogar für die keltische Sprache Irlands gab es angeblich lange zwei Systeme – eines in der Mädchen-, ein anderes in der Knabenblindenschule!
Für Alphabete, die ganz anders sind als das lateinische, hat man nicht selten die Buchstaben des Alphabets den Braillezeichen einer europäischen Sprache der Reihe nach zugeordnet, ohne die Lautwerte zu berücksichtigen. Wenn die Nachbarsprache ein fast identisches Alphabet hat, jedoch mit – sagen wir – einem zusätzlichen Buchstaben in der Mitte, stimmen in den beiden Sprachen ab dieser Stelle keine Braillezeichen mehr überein.
Um 1950 wurden für die afrikanischen und indischen Sprachen in zwei großen Konferenzen grundlegende Prinzipien für die Definition der Braillezeichen vereinbart. Seitdem ist es viel leichter, die Brailleschrift für mehrere dieser Sprachen zu erlernen.
Aber wie ist es für die Sprachen mit nicht alphabetischen Schriften?
Sie weichen tatsächlich von den Trends der anderen Sprachen ab. Die Abertausenden chinesischen Schriftzeichen waren doch zu zahlreich, als dass jedes eine eigene Brailledarstellung erhalten konnte. So stellt die Brailleschrift in komprimierter Form die Laute, nicht jedoch die Bedeutung der einzelnen Schriftzeichen dar.
Ohnehin wird Koreanisch oft nur und Japanisch teilweise phonetisch geschrieben, allerdings nicht mit Buchstaben, wie wir sie kennen. Die Braillezeichen spiegeln die jeweiligen phonetischen Systeme wider, welche sich stark von uns vertrauten Alphabeten abheben. Gemeinsam haben diese Brailleschriften, dass sie auch dann Worte durch ein Leerzeichen voneinander trennen, wenn die jeweils herkömmlichen Schriften die Worte einfach aneinander reihen.
Kann man auf die Ziffern zählen?
Die Ziffern Louis Brailles wurden von der ganzen Welt übernommen. Nur Französisch, die Heimatsprache der Brailleschrift, hat sich kürzlich abgespalten und führt nun ein anderes Ziffernsystem ein. Und bei den westeuropäischen Sprachen bröckelt seit Jahrzehnten die Einheit bei den Satzzeichen, so dass man die Zeichen für Klammern für jede Sprache neu lernen muss. Und das, obwohl sogar die Ableitung der chinesischen Satzzeichen von den ursprünglichen französischen ins Auge – oder vielmehr: in die Finger – sticht.